«Ich bin gerne frei und unabhängig»

  18.08.2022 , Porträt, Gesellschaft

Seit drei Jahren ist der ehemalige Saaner Regierungsstatthalter und Gerichtspräsident Peter Hänni pensioniert. Wie geht es dem 67-jährigen Topjuristen heute? Was treibt ihn um? Ein Gespräch.

PETER SCHIBLI
Während 35 Jahren hatte Peter Hänni in der bernischen Justiz mit Ausnahme der Generalprokuratur eigentlich alle Funktionen über längere oder kürzere Zeit inne. Nach Stellen in Bern und Belp kam er 1986 nach Saanen, wo er Untersuchungsrichter, Gerichtspräsident und bis 1996 Regierungsstatthalter war. Im Amtsbezirk Saanen und später im Gerichtskreis XIII Obersimmental-Saanen erledigte er pro Jahr ungefähr 300 Zivilgeschäfte, gegen 200 Strafgeschäfte und circa 400 Regierungsstatthaltergeschäfte. Nach der grossen Justizreform war er ab 2011 noch acht Jahre am Regionalgericht Thun tätig.

Hänni blickt auf eine ebenso vielfältige wie verantwortungsvolle Tätigkeit zurück: «Als ich in Saanen anfing, gab es weder Computer noch Zeiterfassungsgeräte. In meiner Funktion als Regierungsstatthalter und Untersuchungsrichter hatte ich 7 Tage/24 Stunden erreichbar zu sein, dies noch ohne Natel.» Viel Zeit in Anspruch nahmen auch die Repräsentationspflichten, denen er immer gerne nachkam: «Als verlängerter Arm der bernischen Regierung gab es sehr viele spannende öffentlich-rechtliche Aufgaben, aber auch Repräsentationen wahrzunehmen, was gerade im Saanenland mit seinen vielen grossen internationalen Anlässen und Symposien eine äusserst bereichernde Angelegenheit war», erinnert der Jurist sich.

Komplexe internationale Fälle
Viele seiner Fälle waren rechtlich komplex: In Saanen wurden Hollywoodstars geschieden, das Erbrecht von Milliardären beurteilt. Internationale Trusts und Stiftungen in Offshore-Gegenden spielten eine Rolle. «Ein Privileg meines Amtes war stets, dass ich meine Arbeit ungeachtet der Reputation und Wichtigkeit der Parteien unabhängig sowie einzig der Sache verpflichtet erledigen konnte», erklärt Hänni. Zu Beginn seiner Karriere trat er für die SVP zur Richterwahl an. Später kandidierte er ohne Parteibindung und wurde stets wiedergewählt. «Ich bin gerne frei und unabhängig», betont er heute.

Sollen bernische Richterinnen und Richter auch in einem Gemeindeparlament oder im Grossen Rat tätig sein? Der Pensionär sieht dafür keinen Hinderungsgrund und betont, dass auch Gesetze sehr politisch sind. «Unabhängigkeit und Objektivität in der Rechtsprechung sind eine Charakterangelegenheit. Ich denke, dass mit der Möglichkeit, Urteile über zwei Instanzen weiterzuziehen, eine gesetzeskonforme Rechtsprechung garantiert ist», findet er und ergänzt: «Richter, Richterinnen sowie Regierungsstatthalter, Regierungsstatthalterinnen müssen neben einem breiten juristischen Rüstzeug Menschen gerne haben.»

Am meisten berührt haben Hänni eher die kleinen alltäglichen Geschichten. «Ich verstand meinen Beruf immer als Hilfestellung für Menschen in schwierigen Situationen.» Besonders aufwühlend waren für ihn Fälle, in denen es um Missbrauch von Kindern oder Kämpfe von Scheidungsparteien zulasten der Kinder ging. Als gläubiger Protestant amtierte er viele Jahre als Mitglied im Saaner Kirchgemeinderat.

Politisiert wurde Hänni während seiner Schulzeit am Gymnasium Neufeld in Bern. Wie viele andere prägte der Vietnamkrieg sein Weltbild und sein Gefühl für Gerechtigkeit. Dem demokratischen Prozess der Schweiz kann er viel Positives abgewinnen, obwohl er in der ausgleichenden Konsensdemokratie und den langen bürokratischen Prozessen auch Nachteile sieht. «Dass die Bürgerinnen und Bürger mitreden können, ist gut für die Schweiz» findet er. Gegen den sich verschärfenden Klimawandel sähe er indes gerne und bald härtere Massnahmen.

Justizreform: zwiespältige Erfahrung
In den beiden Justizreformen zu Beginn der 2000er-Jahre wurden Amtsgerichte zu Kreisgerichten zusammengelegt und schlussendlich in einem Regionalgericht in Thun konzentriert. «Für mich persönlich war die Zentralisierung in Thun eine neue Herausforderung. Ich musste in der Stadt einen Wochenaufenthalt begründen und konnte nicht mehr richtig am Gesellschaftsleben in Saanen teilnehmen, wie ich es mir gewünscht hätte», beschreibt Hänni seine Erfahrung. So erlaubte man es ihm nicht, im Amthaus Saanen weiterzuarbeiten und tageweise nach Thun zu pendeln, obschon dies technisch ohne Probleme machbar gewesen wäre.

Schwer zu verstehen war für Hänni damals, dass die Berner Justiz in Moutier eine Zweigstelle von Biel eröffnete, obschon Moutier viel näher bei Biel liegt als Saanen bei Thun. Ausserdem arbeiten heute in Thun viele Juristinnen, die im Raum Bern wohnen und das Oberland und seine ländliche Bevölkerung nicht oder nur sehr schlecht kennen. Nichtsdestotrotz sieht Hänni in der Zentralisierung auch Vorteile. So brachte diese eine Spezialisierung der Richterinnen und Richter am Regionalgericht in Thun mit sich.

Positive Neuerungen im Erbrecht
Und was denkt er über die aktuellen Änderungen im Erbrecht? Seines Erachtens ist es nachvollziehbar, dass man das Recht den gesellschaftlichen Gegebenheiten anpasst. Dass ab 1. Januar 2023 der frei verfügbare Vermögensteil für den Erblasser steigen wird, sieht Hänni mit Blick auf die Überlebensnotwendigkeit bäuerlicher Betriebe eher als Vorteil. Ganz allgemein stellt er fest, dass durch die vielen Änderungen im materiellen und formellen Recht die Rechtssicherheit in der Bevölkerung stark leidet. «Wer weiss zum Beispiel. heute noch, wie ein Fahrrad gesetzeskonform ausgerüstet sein muss?», fragt er.

Änderungen im Scheidungsrecht
Wie kämpferisch geben sich Scheidungswillige im Saanenland? Laut Hänni ist jeder Fall anders gelagert. Vor allem in der Eheschutzphase seien viele Verletzlichkeiten zu berücksichtigen. Später in der Scheidung spielten die Zuteilung der Kinder, das Kontaktrecht, die Zuteilung der Wohnung oder auch die Höhe des Unterhalts eine wichtige Rolle. Man spürt es: Hänni ist ein lebensnaher Pragmatiker, kein Dogmatiker. Vereinfachungen sind nicht seine Sache. Er plädiert für Differenzierungen in allen Lebensbereichen.

Gut an der neuen Scheidungsrechtsprechung des Bundesgerichts findet er, dass das höchste Schweizer Gericht in den neusten, zum Teil umstrittenen Urteilen explizit gesagt hat, dass ein Richter nicht schematisch urteilen darf, sondern jeden Einzelfall genau prüfen muss. Wann eine geschiedene Frau mit minderjährigen Kindern wieder erwerbstätig werden muss, um ein eigenes Einkommen zu erzielen, sollte auch in Zukunft unter Berücksichtigung der konkreten familiären sowie sozialen Umständen entschieden werden.

Nach Hännis Ansicht ist die gesellschaftliche Realität für die Einführung einer fixen Altersgrenze der Kinder, ab welcher die Mutter wieder arbeiten muss, noch nicht so weit. «Man müsste die Schulen als Tagesschulen mit einheitlichem Beginn und Ende führen, noch mehr Kitas eröffnen usw. Eine Frau mit zwei bis drei Kindern wird mit dieser Praxis regelmässig benachteiligt.»

Viel Sport seit der Pensionierung
Seit seiner Pensionierung vor drei Jahren ist Hänni vermehrt als Skitourenund Wandertourenleiter unterwegs und geniesst mehrtägige Velotouren. Ausserdem kauften er und seine Frau sich einen VW-Bus California. «Seither geniessen wir darin während mehrerer Monate im Jahr in der Schweiz und in Europa die Schönheiten der Natur, die Ruhe und die Sehenswürdigkeiten. Ich habe keinen Moment bereut, dass ich bereits mit 64 in Rente gegangen bin. Es ist ein grosses Privileg, gesund unternehmen zu dürfen, worauf man Lust hat, und nichts mehr muss», betont er. Abschliessend zieht Hänni Bilanz: «Ich bin sehr dankbar, dass ich ein äusserst spannendes und erfülltes Leben führen durfte und noch darf: Beruflich war ich durch die Vielfalt der juristischen Anforderungen stark gefordert, was mir sehr entsprach. Zusammen mit unseren beiden Söhnen dürfen wir in einer jahrzehntelangen Periode des Friedens und wirtschaftlicher Prosperität leben. Nun geniessen meine Frau und ich die neu gewonnenen Freiheiten. Das Saanenland mit seiner einmaligen Natur und der weltoffenen Bevölkerung ist hierfür ein Paradies.»


PETER HÄNNIS L AUFBAHN IN ZAHLEN

• 1983 Fürsprecherpatent
• 1984 Anstellung als Kammerschreiber am Obergericht des Kantons Bern
• 1985 Wahl zum Gerichtsschreiber, Betreibungsbeamten, Handelsregisterführer und stv. Grundbuchverwalter im Amtsbezirk Seftigen in Belp
• 1986 Wahl zum Untersuchungsrichter, Gerichtspräsidenten und Regierungsstatthalter im Amtsbezirk Saanen
• 1986 Wahl durch den Grossen Rat des Kantons Bern zum Ersatzrichter am Verwaltungsgericht des Kantons Bern
• 1997 Wahl durch den Grossen Rat des Kantons Bern zum Ersatzrichter am Obergericht des Kantons Bern
• ab 1997 Gerichtspräsident des Gerichtskreises XIII Obersimmental-Saanen
• ab 1998 a.o. Ersatzrichter am Geschworenengericht des Kantons Bern
• ab 2011 Gerichtspräsident am Regionalgericht Oberland in Thun
• 2019 Pensionierung


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