«Wenn die Parteien die Diskussion von Befürwortern und Gegnern organisieren würden, würden wir das nicht tun»
08.06.2022 Saanenland, Serie, Kirche, Politik, Saanenland, GesellschaftKürzlich fand eine Podiumsdiskussion zum neuen Transplantationsgesetz statt. Organisiert wurde es von der reformierten und der römischkatholischen Landeskirche. Am Kirchentalk mit Vertretern der Landeskirchen und Freikirchen aus dem Saanenland stellte sich die Frage, ob das ihre Aufgabe ist.
BLANCA BURRI «Ja, die Kirche muss politisch aktiv sein», findet Alexander Pasalidi, Pfarrer der römisch-katholischen Pfarrei Gstaad. «Das Evangelium verpflichtet uns, politisch im Einsatz zu stehen.» Denn Jesus habe gesagt, «geht hinaus in die ganze Welt und verkündet das Evangelium». Das Evangelium gebe Aufschluss darüber, wo man sich politisch einmischen solle. Alexander Pasalidi: «Beispielsweise sagt das Evangelium ‹selig, die Frieden stiften›, das ist doch hoch aktuell! Wenn wir uns für den Frieden in der Ukraine einsetzen, sind wir bereits politisch. Und wenn wir uns für etwas einsetzen, setzen wir uns auch aus – wir bekennen Farbe.»
Zu ethischen Fragen Stellung beziehen
Das EGW macht einen Unterschied zwischen der Kirche als Institution und dem Kirchenmitglied. «Als Kirche sind wir eher zurückhaltend mit politischen Parolen, ausser die Meinung zu einem Thema lässt sich biblisch eindeutig begründen», macht Roland Reichenbach, Bezirkspräsident, deutlich. Als Privatpersonen seien die EGW-Mitglieder immer wieder politisch aktiv: in Kommissionen, als Gemeinderäte oder Präsidenten der Gemeindeversammlung.
In politischen Themen als besonders progressiv bekannt ist die reformierte Kirche. Pfarrer Bruno Bader begründet: «Zur reformierten DNA gehört das Bewusstsein, dass ich als Teil der Christengemeinde auch Teil der Bürgergemeinde bin und ich engagiere mich deshalb auch darin.». Das sei auch der Grund dafür, dass er im Saanenland zu politischen Themen Anlässe organisiere. «Ich bin auf Alexander Pasalidi zugegangen, um gemeinsame Diskussions- und Informationsveranstaltungen zu politischen, gesellschaftlichen und sozialen Themen zu organisieren.» Die Landeskirchen habe deshalb zum Transplantationsgesetz vor Kurzem ein Podium auf die Beine gestellt. Auch zur Agrarinitiative war etwas geplant. Dieser Anlass musste aber abgesagt werden, weil ein nationaler Exponent bedroht worden war und sich deshalb aus dem Abstimmungskampf zurückgezogen hatte.
Keine Parteipolitik – oder doch?
Zwar regt Alexander Pasalidi den politischen Diskurs gerne an, wehrt sich jedoch ausdrücklich gegen Parteipolitik. «Wir schreiben den Leuten nicht vor, was sie abstimmen oder wen sie wählen sollen! Davon sind wir weit entfernt. Aber wir stehen ein für Glaube, Hoffnung und Liebe.»
Weder das EGW als Kirche noch die Heilsarmee, noch die Neuapostolische Kirche sind im Saanenland so klar unterwegs und so aktiv wie die Landeskirchen. «Die Kirche als Institution nimmt normalerweise keine Stellung. Auch nicht zum Ukraine-Krieg», erklärt Roland Reichenbach, «obwohl sicher keines unserer Mitglieder diesen Krieg gutheissen würde.» Der Krieg sei im Gottesdienst ein Thema und die Betroffenen würden ins Gebet eingeschlossen. Reichenbach empfiehlt den Gläubigen: «Bei der Orientierung und bei Entscheidungen hilft uns unser Glaube, der unter anderem auf den zehn Geboten, aber besonderes auch auf der Liebe von Jesus Christus zu uns Menschen beruht.»
Zu viel Parteipolitik
Zum Thema Parteipolitik sieht es bei den Reformierten anders aus. «Meine Landeskirche hat sich in den vergangenen Jahren sehr stark auch parteipolitisch engagiert.» Nicht zur Freude von Bruno Bader. Selbstkritisch meint er: «Das bedauere ich.» Er ist froh, dass innerkirchlich ein Umdenken stattfindet. Bader bezeichnet es als «Lernprozess». Trotzdem müsse sich die Kirche zu aktuellen Diskussionen äussern, die in unmittelbarem Zusammenhang mit der christlichen Existenz stehen. Bruno Bader nennt zwei Beispiele: «Fragen zum Anfang und Ende des Lebens sowie Fragen zur Ehe.» Doch weshalb muss die Kirche Stellung beziehen und weshalb können die Mitglieder ihre Meinung nicht selbst bilden? Viele informierten sich in sozialen Medien, so Bader. Zudem bilden die klassischen Medien die Meinungsvielfalt nicht immer ab. Deshalb sei es nicht immer einfach, sich eine Meinung zu bilden. «Viele leben in einer Blase und tauschen sich nur noch mit ihresgleichen aus.» Deshalb rege er, Bruno Bader, gerne zu Diskussionen oder Streitgesprächen an. Aus diesem Grund weist er an Abstimmungssonntagen in den Mitteilungen des Gottesdienstes jeweils darauf hin, dass ein Urnengang ansteht. «Denn als Christ habe ich auch Verantwortung im Staat.»
Selfie-Frömmigkeit?
Bruno Bader wagt sich gar noch weiter vor. «Die Freikirchen haben einen anderen Ansatz als die Reformierten. Den Freikirchen geht es in ihrer Gemeinschaft um Frömmigkeit, ums eigene Seelenheil und das der Glaubensbrüder und -schwestern.» Er selbst sei in einer Freikirche aufgewachsen, deshalb wage er zu behaupten, dass das Engagement der Freikirchen für die Gesellschaft ausserhalb der Kirche viel weniger ausgeprägt sei als bei den Reformierten. Er stichelte die Gesprächspartner gar mit dem Wort Selfie-Frömmigkeit. Das liess Ueli Schopfer von der Heilsarmee nicht auf sich sitzen: «Da widerspreche ich aufs Heftigste! Uns alle geht das Weltgeschehen etwas an!» Aber das bedeute noch lange nicht, dass die Kirche dazu Stellung nehmen müsse, sondern jede Person müsse dies für sich selbst tun. Aber bei ethischen Fragen sei das anders, beispielsweise beim Thema Schwangerschaftsabbruch, da müsse die Kirche Farbe bekennen. Bei anderen Themen wie bei der Verantwortungsinitiative findet Schopfer eine Stellungnahme hingegen nicht angebracht.
Heinz Wyss von der Neuapostolischen Kirche doppelt nach: «Wenn die Kirche keine Stellung bezieht, heisst das nicht, dass die einzelnen Mitglieder neutral sein müssen!» Denn von einem neuapostolischen Christen werde erwartet, dass er sich in der Gesellschaft einbringe und seine Aufgabe im Staat erfülle.
Wenn die Parteien aktiv wären …
Grundsätzlich stellt sich die Frage, ob der politische Diskurs nicht Aufgabe der Parteien wäre. «Natürlich! Wenn die Parteien die Diskussion von Befürwortern und Gegnern organisieren würden, würden wir das nicht tun!», betont Bruno Bader, «aber das taten sie nicht.» Deshalb würden die Landeskirchen im Saanenland in die Bresche springen. Nicht bei jedem Thema, aber beispielsweise beim Transplantationsgesetz, das einen direkten Bezug zur Kirche habe. «Es geht um das Ende des Lebens, um Ethik und um Selbstbestimmung. Da müssen die Bürger, die die reformierte Kirche als mündig betrachtet, differenziert informiert werden. Damit können sie sich ein eigenes Bild und eine eigene Meinung bilden.» Bei den neuapostolischen Christen und im EGW findet der Austausch – auch der politische Diskurs – im Anschluss an den Gottesdienst, beispielsweise beim Kirchenkaffee oder in separaten Gesprächsgruppen statt. Das findet Alexander Pasalidi nicht gut genug: «Auf unserem Podium waren nationale Exponenten, und zwar Befürworter und Gegner – das ist kein Kafikränzli.» Die Gefahr beim Kafikränzli sei, dass man sich nicht differenziert mit dem Thema auseinandersetze, sondern mit Menschen rede, deren Meinung man sowieso gerne höre. «Bei unseren Podiumsgesprächen geht es darum, dass die Bürger einen meinungsbildenden Anlass auf einem hohen Niveau antreffen und hierfür nicht nach Thun und Bern reisen müssen.»
Selbstkritische SVP
«Wir waren uns nicht bewusst, dass wir uns auch hätten einbringen können», beantwortet Roland Reichenbach auf die Frage, weshalb die Landeskirchen das Podiumsgespräch ohne EGW organisierten. Er gibt sich selbstkritisch: «Ich bin SVP-Mitglied und natürlich hätte die Partei einen Anlass lancieren können, wie sie es im Übrigen bei anderen Fragen auch schon getan hat.» Er finde es grundsätzlich nicht schlecht, wenn verschiedene Positionen diskutiert würden. «Dann gibt die Kirche keine vorgefertigte Empfehlung oder Meinung ab, das ist wichtig.»
Temperamentvolles Gespräch
Das Gespräch in einem Sitzungszimmer in Gstaad war angeregt und die Gesprächskultur äusserst diszipliniert. Zwar wurde auch einmal auf den Tisch gehauen, aber erst, nachdem der Vorredner seinen Satz abgeschlossen hatte. Ausser Bruno Bader haben sich alle davor gehütet, sich über andere Kirchen zu äussern, sie zu kritisieren oder gar anzugreifen und so vielleicht den Deckel von bestehenden Uneinigkeiten zu öffnen. Vielmehr wurde die Ökumene betont. Und Ueli Schopfer zeigte auf: «Wenn man mit dem Finger auf andere zeigt, zeigen drei Finger der Hand auf sich selbst.»
KIRCHENTALK
Das Gespräch fand auf Einladung dieser Zeitung statt, mit:
• Bruno Bader, Pfarrer reformierte Kirchgemeinde Saanen-Gsteig
• Alexander Pasalidi, Pfarrer römisch-katholische Pfarrei St. Josef Gstaad
• Roland Reichenbach, Evangelisches Gemeinschaftswerk Bezirk Gstaad (EGW)
• Ueli Schopfer, Heilsarmee Saanen
• Heinz Wyss, Neuapostolische Kirche Schweiz
Kirchenvertreter der ganzen Kirchenlandschaft Saanenland waren zum Gespräch eingeladen. Aus verschiedenen Gründen konnten nicht alle teilnehmen.
DIE ZEHN GEBOTE
Lange orientierte man sich bei allen Entscheidungen an den zehn Geboten, die es in verschiedenen Varianten gibt. Heute sind sie vielen nur vom Hörensagen bekannt. Eine kleine Auffrischung:
1. Ich bin der Herr, dein Gott. Du sollst keine anderen Götter haben neben mir.
2. Du sollst den Namen des Herrn, deines Gottes, nicht missbrauchen.
3. Du sollst den Feiertag heiligen.
4. Du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren.
5. Du sollst nicht töten.
6. Du sollst nicht ehebrechen.
7. Du sollst nicht stehlen.
8. Du sollst nicht falsch Zeugnis reden wider deinen Nächsten.
9. Du sollst nicht begehren deines Nächsten Haus.
10. Du sollst nicht begehren deines Nächsten Weib, Knecht, Magd, Vieh noch alles, was dein Nächster hat.
Kommentar
Ein Ding der Unmöglichkeit
BLANCA BURRI
Kirchenmänner sind belesen und sie sind es gewohnt, zu predigen, zu argumentieren und zu debattieren. Die fünf Exponenten, es wären im Übrigen alle Vertreter der Kirchenlandschaft Saanenland eingeladen gewesen, haben im Gespräch klug argumentiert und vor allem die Stärken ihrer Kirchen hervorgehoben. Und doch scheinen die Kirchen, allen voran die Landeskirchen, veraltet und aus der Mode gekommen. Das zeigen die zahlreichen Kirchenaustritte in westlichen Ländern. Man muss bedenken, dass sie in einem Dilemma stecken, denn sie sind alt, bis zu 2000-jährig. Unterwegs hat sich einiges angesammelt, von veralteten Ansichten über unumstössliche Hierarchien und Traditionen bis hin zu Macht- und Kindsmissbrauch. Die Landeskirchen tragen teilweise einen schweren Rucksack. Nicht nur das: Die Weltkirchen beheimaten Gläubige aus vielerlei Kulturen, Klassen, politischen Systemen und Entwicklungsstufen. Hier als Weltkirche einen Konsens zu finden, ist äusserst schwierig, wenn nicht sogar ein Ding der Unmöglichkeit. Aber was interessiert das die Gläubigen vor Ort? Sie wollen eine moderne Kirche, die alle Gläubigen vorbehaltlos in allen Hierarchiestufen aufnimmt und ihnen auf Augenhöhe begegnet.