Ich bin ein Baum

  24.11.2020 Region, Kolumne

Schreiben Sie gerne? Wir veröffentlichen Kurzgeschichten von Leserinnen und Lesern, die einen Bezug zum Saanenland haben oder deren Geschichten im Saanenland spielen.

Improvisation zu einem Zitat aus dem Gedicht «Davet» (Einladung) von Nâzim Hikmet, türkischer Dichter (1902 – 1963): «Leben wie ein Baum, einzeln und frei, doch brüderlich wie ein Wald, das ist unsere Sehnsucht.»

Ich bin ein Baum im Wald. Meine Blätter spenden Schatten und Kühle. Mein Stamm verströmt einen Duft von Harz, der Boden von Moos und Erde. Efeu rankt sich empor, Flechten krallen sich an mir fest. Fast alles hier ist grün. Und luftig. Wenn der Wind vorbeischaut, kommt alles an mir und um mich herum in Bewegung, ein Zittern und Biegen und Schwenken. Wenn er heftig kommt, stöhne ich manchmal, auch die andern. Es tönt dann wie ein Ächzen. Oder, wenn ihr die Augen schliesst, könnte es sein, dass ihr euch am Meer wähnt. Anrollende Wellen, vom Wind getrieben, die sich am Ufer tosend ausschäumen. Mein Stamm bleibt ruhig, ein Fels in der Brandung.

Viele Tiere gehen bei mir ein und aus. Eichhörnchen machen ein Wettrennen, der Kleiber rennt kopfüber an mir herunter. Mücken tanzen im goldenen Band des Sonnenstrahls, sie tasten die Musik entlang der leuchtenden Notenlinien ab. Ein Star hat hoch oben in der kleinen Höhle eines Astlochs ein Nest gebaut. Jetzt kauert sie auf den drei Eiern und ruht sich aus und wartet. Ein Reh kommt vorbei, manchmal auch der Fuchs.

Auf meiner linken Seite berühre ich meinen Nachbarn. Manchmal tauschen wir dort Zärtlichkeiten aus. Nachts rede ich mit den Sternen, der Stille, der Dunkelheit, mit dem scheuen Dachs. Und weine mit den Regentropfen. Ich höre die Blätter des Nachbarn flüstern, manchmal singt jemand, betet jemand, lacht jemand. Der Kauz ruft. Manchmal kommt der Mond vorbei, dann leuchten wir alle hell auf.

Im Herbst ändert sich die Farbe unserer Blätter. Unmerklich fast beginnt die grosse Verwandlung. Grün wird zu Gelb, wird zu Gold, wird zu Rostrot, wird zu Blau, zu Braun, zu Bronze, Orange, Weinrot. Ein glühendes Aufleuchten, als stände der Wald in Flammen. Oder ein letztes Aufbäumen. Dann lasse ich los, ein Blatt lässt los, das nächste, das übernächste, lassen sich einfach fallen, schweben tanzend, torkelnd um sich drehend dem Boden zu, einzeln, alleine, zu zweit, zu dritt. Die Stille ist gross, das Fallen lautlos, das Landen sanft.

Der Wald wird durchsichtig, ein luftiges Gewebe aus Ästen und Stämmen. Ich kann jetzt bis zum übernächsten Nachbarn sehen und noch viel weiter. Die abgelegten Kleider liegen am Boden, Schlafplatz für mein Reh. Auch für mich ist es Zeit zu gehen. Es ist nicht weit, nur bis zu mir. Ich nehme den Weg durch den Stamm, in die Wurzeln, und weiter in die Erde. Mein Nachbar ist schon da, auch andere Bäume unseres Waldes. Ich höre sie atmen. Wir ruhen uns aus. Die Nächte sind lang. Wir warten. Wir warten unten, die Knospen warten oben.

Ich weiss nicht, wann und wo es anfängt, aber wenn ihr euer Ohr an den Rand der Stille legt, kann es sein, dass ihr im noch Dunkel des nahenden Tages die ersten Klänge vernehmt. Dann setzt leise eine Amsel ein, im Mezzosopran. Jetzt eine zweite. Ein Hausrotschwanz schliesst sich an, im Sopran, etwas heiser noch, quetschend. Dann die Meisen, die Buchfinken, der Star. Und was in einem fünffachen Pianissimo angefangen hat, wächst in einem fliessenden Crescendo entlang der Tage und Nächte bis zum vielstimmigen Choral im fünffachen Forte.

Jetzt sind meine Knospen aufgewacht. Ihre Haut spannt sich prall. Plötzlich platzen sie, eine nach der andern, manchmal zwei, drei gleichzeitig. Wie eine Fruchtblase im Mutterschoss. Und das lange gehütete Geheimnis wird sichtbar: flaumige, weiche, hellgrüne Blätter, noch etwas zerdrückt, zart wie die Haut eines Neugeborenen. Rein, neu, vollkommen.

Ein heller Glockenklang durchflutet den Wald, vermischt sich mit dem Choral der Vögel.

Ich bin ein Baum in der grünen Kathedrale ohne Mauern.

CLAUDIA BÜRKI SIWEK

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ZUR AUTORIN

Claudia Bürki Siwek ist pensionierte Ärztin und leidenschaftliche Hobbymusikerin, Stiftungsrätin der International Menuhin Music Academy (IMMA) und Präsidentin der Berner Freunde der IMMA. Claudia Bürki Siwek lebt in Biel bei ihren Angehörigen.


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