Warum eigentlich kämpfen die «Bösen» beim ESAF um den Königstitel?

  23.08.2022 Sport

280 Schwinger werden am übernächsten Wochenende am Eidgenössischen Schwing- und Älplerfest in Pratteln teilnehmen. Der Bernisch-Kantonale Schwingerverband stellt 58 Mann. Einer von ihnen ist Aellen Florian aus dem Saanenland. Warum aber wird der «Böseste» zum König erkoren? Und woher kommt der Schwingsport überhaupt?

EUGEN DORNBIERER-HAUSWIRTH
In den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts, an einem lokalen «Schwinget» im Saanenland, kommentierte ein Schwinger seinen letzten Gang mit den Worten: «I has bös gha.» Diese Formulierung findet man auch in vielen anderen Zusammenhängen wie zum Beispiel: «Es ist bös, bei Glatteis zu laufen», «Da ist bös heranzukommen», «Mit dem ist bös Chriesi ässe», «bös ha» (sich mit schwerer Arbeit abplagen, sich abrackern) und so fort. Im «Schweizerischen Idiotikon» entdeckt man aber auch Deutungen mit Bezug auf den Gemütszustand: «er böset» (er wird strenger, härter, zorniger), «etwas Böses und Schändliches tun». Das Adjektiv «böse» ist eigentlich nicht zutreffend für den ehrlich kämpfenden Schwinger, der dem unterlegenen Gegner nach dem Kampf gar das Sägemehl vom Rücken abwischt.

In unserem Land sind beinahe von Dorf zu Dorf verschiedene Dialekte beheimatet. Die Landessprachen Deutsch, Französisch, Italienisch und das Rätoromanische vermochten die Umgangssprachen nicht zu verdrängen. Was den Menschen im Saanenland verständlich ist, klingt in den Ohren der Unterländer fremd und oft unverständlich. Dazu kommt, dass der sprachwissenschaftliche Ursprung für die Allgemeinheit ein Buch mit sieben Siegeln ist. Man spricht, wie einem der Schnabel gewachsen ist und toleriert die Sprache seiner Mitmenschen. Ab und an, wenn ein Dialektwort wirklich nicht in die eigene Sprache übersetzt werden kann, bemüht man sich, nachzufragen. Aber in der Regel interveniert man kaum, lässt das Wort, wie es ausgesprochen wird. Eine wahrscheinliche Folge davon ist, dass man sich Wörtern bedient, deren Sinn man eigentlich nicht kennt. So kam es, dass die Aussage des Schwingers aus dem Berner Oberland, «I has bös gha», in Gegenden ausserhalb des berndeutschen Dialektes eine andere Bedeutung erfuhr. Im Kern des Begriffes ist nicht mehr «sich abrackern», sondern der Gegner ist «ein Böser». Weil die Sprache lebt, fand diese Bezeichnung im Laufe der Zeit unreflektierten Einzug in unseren Wortschatz. So werden manche Medien am Montag nach dem «Eidgenössischen» verkünden: «Die Bösen kämpften am Eidgenössischen Schwing- und Älplerfest in Pratteln um den Königstitel». Der «Böseste» wurde zum König erkoren.

Rituelles bei den Assyrern
Auf der Suche nach dem «Urknall» des Schwingens sind weite Wege zu gehen. Lange bevor die Menschen den Planeten Erde bewohnten, lebten auf diesem die Tiere. Jungtiere spielten, balgten und jagten sich. Sie übten den «Ernstkampf», um auf der freien Wildbahn überleben zu können. Vorstellbar, dass die Evolution der Menschheit Spuren von tierischen Verhaltensweisen vererbt hat. Sind die drolligen Kampf- und Raufspielchen kleiner Kinder nicht ähnlich jener der Hauskätzchen? Intuitives sich Stossen, Ziehen, Halten und Quietschen dienen allerdings schon seit sehr langer Zeit nicht mehr dem Kampf ums Dasein. Überlebt hat indessen der Spieltrieb. Sind in diesem etwa die Wurzeln des Schwingens zu finden?

Die Spur zu den Wurzeln des körperlichen Zweikampfs führt tief in die Vergangenheit, zurück zu den Assyrern in die Jahre ca. 2000-600 v.Chr. Über das Land am mittleren Tigris, dem heutigen Irak, schrieb Karl May in seinem Buch «Durch das wilde Kurdistan» abenteuerliche Geschichten. Vielleicht wusste er auch, dass die Assyrer tüchtige Krieger waren und hohe kulturelle Leistungen vollbrachten. Die Assyrer pflegten kultisch-rituelle Formen der Lebensertüchtigung – beispielsweise das Ringen mit Lendengürtel, vergleichbar mit unserem Schwingen. Den Sinn sahen sie in der Erziehung zur Wehrbereitschaft und in der körperlichen Widerstandsfähigkeit.

Mit den gewonnen Erkenntnissen aus der Epoche der Assyrer kann die Fahndung nach den Wurzeln des Schwingens nicht abgebrochen werden. Die aufgedeckten Hinweise entbehren jeglicher Beweise. Schritt um Schritt, wie damals Karl Mays Romanhelden Kara Ben Nemsi, Halef und der spleenige Sir David Lindsay, muss die Reise durch den Orient fortgesetzt werden.

Beweise für einen dem Schwingen ähnlichen Zweikampf fand man bei den Ägyptern 2100–2000 v.Chr. Aufgrund von Fresken und Wandmalereien weiss man einiges über den Sport der Ägypter. Die Sportart, die am häufigsten dargestellt wird, handelt von verschiedenen Formen des Zweikampfes. Zu sehen gibt es zwei Ringer mit 122 verschiedenen Stellungen und Griffen. Um die Strategie und Gegenstrategie der beiden Kämpfer hervorzuheben, ist der eine in einem dunkleren, der andere in einem helleren Rotbraun gemalt. Ein Fresko – vermutlich etwa 600 Jahre später entstanden – zeigt, dass der Zweikampf sehr hoch angesehen war und gar beruflich ausgeübt wurde.

Zurück in die Schweiz
Wann und in welchem Zusammenhang Schwingen erstmals erwähnt wurde, bleibt eine offene Frage. Erste Darstellungen gehen auf das 13. Jahrhundert zurück. Forscher wollen in der Kathedrale in Lausanne, in einer Bildgalerie im Querhaus, Abbildungen von schwingenden Figuren erkannt haben. Die typische Art, Griff zu fassen, würde auf die Form des Zweikampfes – heute Schwingen genannt – hinweisen. Geschwungen wurde damals vermutlich an Hirten- und Wirtshausfesten. Im Alpenraum, in den Urkantonen Uri, Schwyz und Unterwalden, gehörte der Hosenlupf zum festen Bestandteil der Festkultur. Es sind Beispiele überliefert, dass besonders gefürchtete Schwinger die Zeit auf der Alp nicht in erster Linie für die Arbeit, sondern für die Entwicklung ihrer Kraft und Behändigkeit zu nutzen wussten.

Vermutungen, Deutungen und Sagen rund um die Entstehungsgeschichte des Schwingens verstummen 1805 mit dem ersten Unspunnen-Schwinget1. Hans Stähli aus Schwanden bei Brienz wird erster Sieger. 1808 verlässt Peter Brog, Oberhasli, das zweite Alphirtenfest zu Unspunnen als «König». Danach ruhte, was euphorisch begann!

Das schlechte Verhältnis zwischen Stadt und Land2 führte zu einer langen Pause des Festes (1808 bis 1905), das eigentlich die Land- und Stadtbevölkerung hätte vereinigen sollen. Der Ausfall des Unspunnen-Schwinget vermochte die Entwicklung des Schwingens nicht aufzuhalten. Im Gegenteil! Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts brachten denkwürdige Schwingfeste und Turnpädagogen das Schwingen auch in die grossen Städte. Aus dem ursprünglichen Spiel der Hirten und Bauern wurde ein Nationalsport, der alle Schichten umfasste. Die Verbände – allen voran der Eidgenössische Schwingerverband, gegründet 1895 – organisierten ihren Sport, indem sie regionale Eigenarten integrierten, mit Lehrbüchern und Trainingsstunden das Niveau hoben und zeitgemässe Wettkampfregeln schufen.

1 Unspunnen-Schwinget, benannt nach der Ruine Unspunnen, die etwas überhöht über den Dörfern Matten, Wilderswil und Bönigen nahe der Stadt Interlaken steht.

2 Die Unruhe eskalierte 1814, als es im Berner Oberland zu offener Aufruhr gegen Bern kam. «Die politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse blieben im Oberland gespannt. Polizeiwesen und Armennot spotteten nach wie vor der holden Einigkeit zwischen Regierung und Volk.»

Quellen: «Olympia», Römer Verlag Stuttgart 1971; «Unspunnen-Schwinget», Gallati Rudolf und Wyss Christoph, Standardwerk Unspunnen, erschienen 1993 beim Verlag Schlaefli in Interlaken.


DER GSTAADER SCHWINGER AELLEN FLORIAN

Der Kranzgewinn am Oberländischen Schwingfest in Oey-Diemtigen (10. Juli 2022) ist für den 27-Jährigen und 105 kg schweren Gstaader die optimale Voraussetzung hinsichtlich des «Eidgenössischen» in Pratteln.

Acht Tage vor dem «Königsfest», das nur alle drei Jahre stattfindet, sagte der gelernte Zimmermann:

«Das Oberländische, mit König Wenger Kilian und dem Spitzenschwinger von Weissenfluh Kilian unter den Konkurrenten, gab mir enormen Schub. Ich freue mich auf den ‹Schwinget› im Baselbiet.

In den kommenden Tagen geschieht eigentlich nichts Spezielles. Am Samstag reiste ich mit dem Berner Schwingerteam nach Pratteln, um die Wettkampfstätte zu inspizieren. Von Montag bis Freitag gehe ich wie gewohnt meiner Arbeit nach. Ein letztes Training mit einigen strengen Gängen soll mir den letzten Schliff und ein gutes Gefühl verleihen. Aber auch Ruhe und Erholung sind angesagt.

Mein Lieblingsschwung ist der ‹Brienzer›*. Am Fest hoffe ich, dass meine zugeteilten Gegner nicht ‹brienzere›, denn man ist in jenen Schwüngen besonders gefährdet, die man selbst gerne macht.

Meine Zielsetzung ist, den ersten Wettkampftag zu überstehen und acht Gänge schwingen zu können. Zudem möchte ich nicht schlechter abschneiden, als 2019 am Eidgenössischen in Zug. Damals verpasste ich den Kranz um dreiviertel Punkte.»

*Im ursprünglichen «Brienzer» macht der angreifende Schwinger eine Drehung und greift mit dem Arm über die Schulter oder den Nacken des Gegners. Gleichzeitig hängt er mit dem linken Bein am Bein des Gegners ein, spreizt das Bein hoch und wirft ihn mit kräftigem Ruck nach vorn kopfüber auf den Rücken.

 


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