Schulstunden wie vor 100 Jahren
17.11.2022 Schule, Gesellschaft, GstaadIm Rahmen des 100-Jahr-Jubiläums des Rütti-Schulhauses in Gstaad richtete das Schulmuseum Köniz ein Schulzimmer ein, wie es in den Anfängen dieser Schule ausgesehen haben könnte. In den letzten Tagen haben die Museumskurator:innen mit den Schüler:innen der Rütti-Schule Schulstunden wie anno dazumal durchgeführt. Züchtigungen mit dem Lineal gab es keine, eine lehrreiche Stunde für die Schüler:innen war es dennoch.
NICOLAS GEISSBÜHLER
Das Rütti-Schulhaus wird im nächsten September 100 Jahre alt. Im Rahmen des Jubiläums organisiert die Schule während des gesamten Schuljahres verschiedene Anlässe, von denen vor allem die Schüler:innen profitieren sollen. Einer davon war, diese Woche historische Schulstunden durchzuführen. Dazu kamen Kurator:innen des Schulmuseums Bern aus Köniz nach Gstaad, richteten ein altmodisches Schulzimmer ein und gaben allen Stufen eine Schulstunde nach den Lehrmethoden wie in den Anfängen der Schule.
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Authentische Kleidung
Die Schüler:innen wurden aufgefordert, sich zu verkleiden: Die Mädchen sollten sich die Haare zu Zöpfen flechten und lange Röcke, die Jungs Hosenträger anziehen. Die meisten der Kinder machten mit, was dem Zuschauer tatsächlich das Bild vermittelte, inmitten einer Gruppe von Kindern aus den 1920er-Jahren zu sein. Als die Schüler das Zimmer betraten, merkten sie gleich, dass dies kein normales war. Die modernen Pulte sind durch alte Schulbänke ersetzt worden, auf dem Lehrerpult standen ein Tintenfässchen und mehrere Gänsefedern, neben dem Pult ein Zählrahmen. Auch die Bilder an den Wänden waren durch alte Schulwandbilder ersetzt worden. Dazu hatten einige Eltern und Grosseltern sich als Zuschauer eingefunden, von denen manche ebenfalls verkleidet waren.
Im Chor repetieren
Museumskurator Hannes Gasser spielte in dieser historischen Schulstunde die Lehrperson. Auch er war altmodisch gekleidet und machte mit den Kindern Leseübungen: Dabei las die ganze Klasse gemeinsam vor, bis etwas undeutlich oder fehlerhaft war, dann liess Gasser es die Kinder wiederholen, bis sie sattelfest waren. Er gestaltete die Lektion nicht komplett aus Frontalunterricht, wie es vor 100 Jahren wohl gewesen wäre, sondern liess die Kinder auch mitarbeiten. Das lag laut ihm auch am Alter der Kinder, die hier in der 1. oder der 2. Klasse waren. Eine Stunde später mit den Sechstklässlern war der Ton schon deutlich rauer und Kuratorin Esther Scheuner, die Gasser begleitete, vermittelte tatsächlich den Eindruck, dass man in der Zeit zurückgereist war.
Lehrerinnen im Nachteil
Vergleicht man den Unterricht von früher mit dem von heute, strich Gasser heraus, dass früher straffere, «militärischere» Disziplin vom Lehrer gefordert wurde. «Es gab bestimmt mehr Frontalunterricht, und schon nur deswegen war es nötig, dass mehr Disziplin herrschte.» Laut ihm stehe dies aber nur bedingt in einem Zusammenhang mit körperlichen Strafen wie dem allbekannten Linealschlag auf die Finger. Vielmehr hätten sich die didaktischen Methoden geändert und in diesem Zusammenhang auch die Ausbildung für Lehrpersonen stark professionalisiert. Vor 100 Jahren konnte man nach nur fünf Ausbildungswochen Lehrer:in werden, heute braucht man dazu mindestens drei Jahre und die Matura. Für diese Veränderungen ist Schulleiterin Christine Oberli dankbar: «Vor 100 Jahren wäre ich bestimmt nicht Lehrerin geworden. Die Regeln für weibliche Lehrpersonen waren streng und übertrieben. Ich hätte zum Beispiel nicht heiraten dürfen, solange ich als Lehrerin angestellt gewesen wäre oder den Schulleiter fragen müssen, wenn ich das Dorf hätte verlassen wollen. Frauen galten grundsätzlich als nicht geeignet für den Lehrerberuf.»
Alles Freiwillige
Der Museumskurator und die -kuratorin sind beide ehemalige Lehrpersonen, die seit der Pension als freiwillige Helfer im Museum arbeiten. Solche «Schaustunden» sind dabei nichts seltenes: Im Museum in Köniz ist ein Schulzimmer eingerichtet, welches Schulklassen besuchen und dort solche historischen Schulstunden erleben können. Dabei kämen nicht nur Kinder, sondern regelmässig auch Gruppen von Erwachsenen, die von diesem Angebot Gebrauch machen würden, so Gasser. Für diese Woche im Rütti-Schulhaus musste die Schule so nur für die Transportkosten des Materials von Köniz nach Gstaad aufkommen.
Erziehungsfunktion der Lehrperson bleibt
Etwas, das im Unterricht mit den Museumskurator:innen auffiel, war, dass die Lehrperson eine starke Erziehungsfunktion einnahm: Zu Beginn der Stunde wurde die Sauberkeit der Hände überprüft, wer sich nicht stillhalten konnte, wurde in die Ecke geschickt. Dennoch sind sich sowohl Gasser als auch Oberli sicher, dass die Erziehung durch die Lehrpersonen nach wie vor einen wichtigen Stellenwert einnimmt. «Heute muss die Schule Aufgaben übernehmen, die früher von den Grossfamilien übernommen wurden. Viele Kinder kommen heute aus Kleinfamilien und sind es nicht gewohnt, zurückzustehen oder mal zu warten, wenn sie nicht an der Reihe sind. Grenzen und Regeln einzuhalten, fällt einigen Kindern schwer», meinte Oberli.
Gute Resonanz der Eltern und Kinder
Das Jubiläumsprogramm, das auf die Schüler:innen abgestimmt ist, findet grossen Anklang. Dies zeigte die rege Teilnahme von Elternteilen an den historischen Schulstunden, die Bereitschaft von Eltern und Kindern, sich passend anzuziehen, aber auch das grosse Interesse der Kinder, die sich rege am historischen Unterricht beteiligten. Der Höhepunkt des Jubiläumsjahres wird eine Zirkuswoche sein, in der die Schüler:innen nächsten Juni mit einer professionellen Truppe eine Vorstellung einstudieren und aufführen werden.
SCHULMUSEUM BERN
Im Schulmuseum Bern im Schloss Köniz kann man seit der Eröffnung 2008 die Geschichte der Schule in der Schweiz studieren. Das Museum besitzt über 80'000 Exponate und einen Raum, der wie ein Schulzimmer vor 100 Jahren eingerichtet ist. Das Museum ist in einer Stiftung organisiert und besteht aus über 70 freiwilligen Helfer:innen.
PD
Quelle: Schulmuseum Bern • www.schulmuseumbern.ch