Klein, aber oho!

  03.08.2022 Kultur

Vielleicht empfinden die Wiener Sängerknaben die Bezeichnung «klein» als wenig schmeichelnd, doch ist sie keinesfalls despektierlich gemeint, denn: Diese Jungs haben mit ihrem Stimmvolumen das Publikum auf den Bänken der Kirche Saanen zum Staunen gebracht. Ein Abend des Gstaad Menuhin Festivals, der für Überraschungen gesorgt hat.

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Mit zielstrebigen, aber unaufgeregten Schritten schreiten 20 Buben durch die Bänke der Kirche Saanen. Alle zusammen in schlichten Uniformen gekleidet, die Kragen erinnern an Matrosen. Sie stellen sich gleichmässig vor dem Publikum auf, in der Mitte steht ein Klavier. Der Kapellmeister Oliver Stech gibt das Zeichen, die Sänger heben ihre Gesangsbücher. Keine Nervosität ist spürbar, nicht einmal die Gesangsblätter zittern. Alle holen tief Luft. Es folgt ein gewaltiger Klangteppich aus wohltuend und beeindruckend klingenden Stimmen, die einen berühren und Gänsehaut auslösen. Es ist ein Sound, auf den man sich nicht vorbereiten kann.

Teil des Residency-Programms
Die Wiener Sängerknaben haben am Donnerstagabend am Gstaad Menuhin Festival die Zuschauerinnen und Zuschauer in ihren Bann gezogen. Sie waren Teil des vierteiligen Programms von Andreas Ottensamer. Als Artist in Residence 2022 hat der österreichische Soloklarinettist die Carte blanche erhalten und durfte Einfluss nehmen auf die Programmatik des Festivals. «Es ist für mich ganz besonders wichtig, diese Art von Kollaborationen neben den normalen Konzerten zu haben, bei denen man ‹nur› als Musiker auf die Bühne geht und sonst eigentlich keine Berührungspunkte hat», sagt Ottensamer auf Anfrage. Als Wiener sei das diesjährige Festivalthema «Wien» natürlich genau auf ihn zugeschnitten. Das Programm zu kreieren sei ihm daher leicht gefallen. «Da musste ich nicht lange überlegen. Ich habe ein paar Highlightprogramme zusammengestellt, die mit meiner Herkunft zu tun haben.» Da passen die Wiener Sängerknaben wie die Faust aufs Auge. Der Artistic Director, Christoph Müller, habe ihm ein gemeinsames Konzert mit den talentierten Sängern vorgeschlagen. Die Zusammenarbeit für ein Konzert mit Kindern sei «tatsächlich Neuland» für ihn, sagte Ottensamer, die Spannung im Vorfeld daher gross.

Klarinette als weitere Stimme
Das Resultat lässt sich zeigen. Der renommierte Klarinettist begleitete die Nachwuchssänger während drei Liedern, unter anderem bei Stücken von Wolfgang Amadeus Mozart. Der Klang der Klarinette fügte sich in den Chor wie eine weitere Stimme ein – eine bewegende Kombination. Einige Sängerknaben griffen selbst zu ihren Instrumenten. So begleitete ein Junge das oberösterreichische Tanzlied «Es gibt schene Wasserl», sein Chorkollege spielte das Bongo zum jamaikanischen Arbeitslied «Day-Dah Light» und ein weiterer Sänger schlug den Takt auf dem Tamburin zum bekannten neuseeländischen «Wellerman-Song» – einem Seemannslied, welches letztens die Charts gestürmt hat. Und auch ab und an waren die Scheinwerfer nur auf ein Talent gerichtet, wenn die Jungs mit Solodarbietungen überzeugten.

Ruhig und bewegend, dramatisch und mitreissend, heiter und vergnügt: Die Dramaturgie des Konzertabends war vielfältig und gelungen. Die Wiener Sängerknaben haben im Saanenland einen bleibenden Eindruck hinterlassen.


DIE WIENER SÄNGERKNABEN

Die Geschichte der Wiener Sängerknaben reicht über 500 Jahre zurück. Wie der Verein auf seiner Homepage schreibt, sangen die Knaben seit dem 14. Jahrhundert an den Höfen der Habsburger – der älteste Hinweis auf einen Knabenchor in der Hofburgkapelle datiert vom Jahr 1296. Im Jahr 1498 verlegte der spätere Kaiser Maximilian I. seinen Hof und seine Hofmusik aus verschiedenen Residenzen nach Wien. Damit hatte er den Grundstein für die Wiener Hofmusikkapelle und schliesslich auch für die Wiener Sängerknaben gelegt. Über die Jahrhunderte zog der Wiener Hof berühmte Musiker wie Isaac, Biber, Gluck, Mozart, Salieri oder Bruckner an. Joseph Haydn, Michael Haydn und Franz Schubert waren selbst Chorknaben. Bis 1918 sang der Chor ausschliesslich im Auftrag des Hofes. In den 1920er-Jahren wurden die Wiener Sängerknaben als privater Verein neu organisiert. Seit 1926 haben 2540 Sängerknaben an die 1000 Tourneen in 100 verschiedene Länder unternommen. Seit 2004 gibt es auch die Wiener Chormädchen, die singbegeisterte Mädchen ab acht Jahren aufnehmen. Aktuell zählt der Verein rund 100 aktive Wiener Sängerknaben zwischen neun und vierzehn Jahren, aufgeteilt auf vier Konzertchöre. Jeder der Chöre verbringt neun bis elf Wochen des Schuljahres auf Tournee; zusammen absolvieren die Chöre jährlich rund 300 Auftritte. Die Wiener Sängerknaben und Chormädchen gehen gemeinsam zur Schule und sind Teil eines Campus. Dieser beinhaltet die private Musikvolksschule für Mädchen und Buben, das Unterstufengymnasium für aktive Wiener Sängerknaben und das Oberstufen-Realgymnasium mit Schwerpunkt Vokalmusik für Mädchen und Burschen.

https://www.wienersaengerknaben.at


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