«Ich habe verdrängt und verziehen – aber ich werde nie vergessen!»
13.06.2023 InterviewIn seinem Buch «Aufrechtgehen – es ist Zeit zu schreiben» erzählt Andreas Neugebauer aus seinem Leben und von seiner Zeit als Verdingbub. Im Rahmen des bernisch kantonalen Zeichens der Erinnerung ZEDER besuchte er am letzten Donnerstag Gstaad, sprach an der ...
In seinem Buch «Aufrechtgehen – es ist Zeit zu schreiben» erzählt Andreas Neugebauer aus seinem Leben und von seiner Zeit als Verdingbub. Im Rahmen des bernisch kantonalen Zeichens der Erinnerung ZEDER besuchte er am letzten Donnerstag Gstaad, sprach an der Abschlussveranstaltung im Kirchgemeindehaus über sein Leben und las aus seinem Buch vor.
KEREM S. MAURER
Andreas Neugebauer, Sie waren von 1975 bis 1981 auf einem Bauernhof irgendwo an der Grenze zwischen dem Oberaargau und dem Emmental verdingt worden. Besuchen Sie manchmal diesen Ort Ihres persönlichen Grauens und was geht Ihnen dabei durch den Kopf?
Um niemanden zu verletzen, möchte ich nicht genau sagen, wo dieser Bauernhof liegt. Ich war erst vierzig Jahre, nachdem ich den Bauernhof verlassen hatte, erstmals wieder dort, um die Fotos für die Präsentation zu machen, die ich heute in Gstaad gezeigt habe. Doch ich habe nur den Schafstall fotografiert, in dem ich damals geschlafen hatte. Nicht den Bauernhof. Und ich kann Ihnen sagen, es fährt mir immer noch ein, wenn ich den Hof sehe – ich will mal sagen, es gibt Schöneres. Seit meiner Verdingzeit war ich nur dreimal in diesem Dorf.
Sie waren damals nicht das einzige Verdingkind auf diesem Hof?
Nein, wir waren meist zu fünft. Zwei Jungs und drei Mädchen, manchmal auch drei Jungs und zwei Mädchen. Das hat oft gewechselt. Ich war zu meiner Zeit derjenige, der am längsten dort war.
Haben Sie mit Ihren Verdinggeschwistern noch Kontakt und wie geht es diesen heute?
Es geht ihnen so weit gut, die meisten sind irgendwie darüber hinweggekommen. Aber das Gefühl von damals, nichts wert zu sein, geht nicht weg. Das bleibt. Sie haben alle mein Buch gelesen. Das hat auch etwas mit ihnen gemacht. Wir treffen uns heute wieder regelmässig.
Sie betonen in Ihrem Buch, weder anzuklagen noch Vorwürfe erheben zu wollen. Konnten Sie verzeihen, was man Ihnen angetan hat?
Ich musste akzeptieren lernen, was mir widerfahren ist, meine Geschichte annehmen und das Gute daraus ziehen. Und ich musste lernen, zu verzeihen. Lassen Sie es mich so formulieren: Ich habe verdrängt und verziehen – aber ich werde nie vergessen.
Was ist denn das Gute, das Sie aus Ihrer Geschichte ziehen?
Vieles davon erkennt man erst Jahrzehnte später. Wenn ich jetzt mit der Arbeit mit meinem Buch und den Vorträgen, die ich halte, und mit dem Coaching, das daraus entsteht, meinen Lebensunterhalt bestreiten kann, hat sich das Ganze doch irgendwie gelohnt. Man muss aus dem Erlebten schöpfen. Heute kommen Menschen zu mir, ohne dass ich nach ihnen rufe. Als ich vor 48 Jahren gerufen hatte, ist niemand gekommen.
Warum haben Sie vierzig Jahre lang geschwiegen, warum reden Sie erst jetzt?
Weil mir nie jemand geglaubt hat. Ich war auf der Gemeinde, in der ich verdingt war, um zu erreichen, dass keine Kinder mehr auf diesen Hof kommen. Aber man hat mir nicht geglaubt. Dazu gibt es auch eine entsprechende Geschichte in meinem Buch. Damals hatte ein Verdingmädchen der Vormundschaftsbehörde ihr Leid in einem Brief geklagt, nachdem es von der Bäuerin mit dem Scheuerhaken fast zu Tode geprügelt worden war. Doch keiner hat ihm geglaubt.
Heute reden Sie regelmässig vor Publikum und erzählen zum Teil Schrecklichstes aus Ihrem Leben. Wie fühlt sich das für Sie an?
Reden und Erzählen ist nicht das Problem. Aber sobald ich Geschichten aus meinem Buch vorlese, ist es, als wäre ich wieder mitten drin. Dann kommt alles wieder hoch. Aber das Schöne ist, dass sich heute Menschen Zeit nehmen und zu mir kommen, um mir zuzuhören. Endlich hört mir jemand zu! Ich muss auch immer sehr wachsam sein, denn es könnte jemand im Publikum sein, der Ähnliches erlebt hat.
Haben Sie auf diese Weise schon andere Verdingkinder kennengelernt?
Oh ja, einige.
Was halten Sie vom bernisch kantonalen Zeichen der Erinnerung ZEDER?
Es ist ein Zeichen. Nicht mehr, aber auch nicht weniger. Und als solches reicht es mir, weil ich es ja geschafft habe. Aber andere einstige Verdingkinder leben bis heute unter dem Existenzminimum. Dennoch würden sie nie Sozialhilfe oder Ergänzungsleistungen beantragen.
Warum nicht?
Weil es immer noch derselbe Staat ist, der ihnen Schlimmes angetan und alles genommen hat. Von diesem Staat – selbst wenn die Behörden heute neue Bezeichnungen haben und andere Menschen dort arbeiten – wollen diese Menschen nichts. Und schon gar nicht betteln oder sonst wie zu Kreuze kriechen. Diesen Staat um etwas zu bitten, ist für diese Menschen eine Zumutung.
Offenbar gibt es in dieser Hinsicht Handlungsbedarf?
Unbedingt. Menschen, die Opfer wurden von staatlichen fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen dürfen nicht genötigt werden, den Staat um etwas bitten zu müssen, denn die tun das nicht. Man müsste dafür sorgen, dass die Betroffenen auf eine andere Weise ihre Zuschüsse bekommen.
Betroffene erhalten einmalig einen Solidaritätsbeitrag von 25’000 Franken und die alt Bundesrätinnen Eveline Widmer-Schlumpf und Simonetta Sommaruga haben sich im Namen der Regierung bei den Betroffenen entschuldigt.
Die Entschuldigungen der Bundesrätinnen, die mit dem Ganzen nichts zu tun hatten, habe ich wohlwollend aufgenommen. Dies war für mich bedeutsam, weil der Staat endlich hinschaute. Ich wünschte mir, dass man vor allen Verdingkindern, die es geschafft haben, den Hut zieht – und vor allem auch vor jenen, die es nicht geschafft haben.
Was meinen Sie damit, es geschafft zu haben?
Geschafft haben bedeutet, mit der eigenen Geschichte so weit klargekommen zu sein, dass man irgendwie weitermachen konnte und sich allen Widrigkeiten zum Trotz ein Leben danach aufgebaut hat. Kurz: Man hat es geschafft und kann wieder aufrecht gehen.
Haben Sie den Solidaritätsbeitrag angenommen?
Ja, ich habe diesen Betrag beantragt und bekommen. Damit habe ich in Florida ein Haus gemietet, Freunde eingeladen und mit ihnen das Leben gefeiert. Weil ich davon träume, eines Tages in Florida zu leben. Apropos Traum: ich kenne einen 84-jährigen Mann, der diesen Betrag auch bekommen hat. Wissen Sie, was er sich damit geleistet hat?
Nein, woher auch?
Ein Töffli. Der Mann träumte als Verdingkind davon, eines Tages ein Töffli zu besitzen. Er musste siebzig Jahre lang warten, um sich diesen Traum erfüllen zu können. Vielleicht kann er nicht einmal mehr damit fahren – aber er hat sich seinen Traum erfüllt.
Kann man das, was den Verdingkindern in der Schweiz angetan wurde, eigentlich wiedergutmachen?
Wiedergutmachen ist ein grosses Wort. Ich bin wohl eines der jüngsten Verdingkinder und wurde vor 48 Jahren verdingt. Nächstes Jahr werde ich 60 Jahre alt. Das ist für viele schon zu lange her, um da noch hinzuschauen. Doch das Wichtigste ist hinschauen, damit so etwas nicht mehr passiert. Es gibt heute noch Themen und Situationen, in denen Kinder leiden und die Gesellschaft wegschaut. Man muss achtsamer sein. Auch wenn zum Beispiel irgendwo jemand sitzt mit starrem Blick. Man sollte sich fragen, was diese Person erlebt hat.
Gibt es denn auch Orte, wo solche Menschen hingehen und – wenn sie mögen – ihre Geschichte erzählen können?
Ja, es gibt das Erzählbistro. Solche Erzählcafés finden immer in Gruppen statt, an einem schönen Ort oder in Form eines spannenden Stadtspaziergangs. Es gibt sie aber auch per Telefon oder Videokonferenz. Da kann jede und jeder mitmachen. Egal ob er oder sie verdingt war, im Knast, in der Psychiatrie oder wo auch immer. Im Erzählbistro kann man seine Geschichte erzählen. Dort sind Leute, die sich gerne Zeit nehmen und zuhören. Das ist eine gute Sache, ich selbst bin dort auch engagiert.
Werden Sie sich auch künftig für ehemalige Verdingkinder und die weitere Aufarbeitung einsetzen?
Absolut! Es ist wichtig, dass man einsieht, dass uns Unrecht angetan worden ist. Aber noch heute ist es schwierig, viele wollen das noch immer nicht wahrhaben. Erschwerend kommt dazu, dass alles schon ein halbes Jahrhundert her ist. Das ist – wie schon gesagt, – für viele zu lange, um jetzt noch hinzuschauen.
Haben Sie konkrete Ideen?
Ich will mich einsetzen und eine Stimme gegen das Vergessen sein und dafür, dass ehemalige Verdingkinder ihr Geld bekommen, ohne sich beim Sozialamt melden zu müssen. Ich will einen anderen Kanal schaffen, denn schliesslich ist das Geld dafür in diesem eigens dafür geschaffenen Fonds ja vorhanden. Mit diesem Geld müsste man mit ehemaligen Verdingkindern Dinge unternehmen. Zum Beispiel mit jenen, die noch nie das Meer gesehen haben, an die Küste fahren. Oder solche Dinge. Wirklich viele von uns gibts ja nicht mehr. Und ich will eine Stimme sein für alle, die es aus irgendwelchen Gründen nicht schaffen, selbst über ihre Erlebnisse zu sprechen.
www.erzaehlbistro.ch c/o Krauthammer & Partner, Hotelgasse 10, 3011 Bern, Telefon 078 729 71 72, E-Mail: info@ erzaehlbistro.ch
ZUR PERSON
Andreas Neugebauer wurde 1964 geboren. Er wuchs in vier verschiedenen Ländern auf und hatte im Alter von elf Jahren bereits achtmal die Schule gewechselt. 1975, als er elf Jahre alt war, kam er als Verdingbub auf einen Bauernhof, wo er bis 1981 bleiben musste. Als er sich in die Freiheit zurückgekämpft hatte, folgte der Totalabsturz. Alkohol, Drogen. Er lebte einige Jahre auf der Strasse, wollte Musiker werden und verschuldete sich. Als er ganz unten war, änderte er sein Leben und kämpfte sich innerhalb von zwölf Jahren zurück in die Gesellschaft und startete eine unglaubliche berufliche Karriere, an deren Höhepunkt er auf eine zwanzigjährige Managementkarriere bei der Schweizerischen Post zurückblicken konnte. Heute hilft er als Motivationscoach anderen Menschen auf dem Weg zurück ins Leben, denn er ist überzeugt: «Es gibt keinen Grund, warum ich der Letzte sein sollte, der es geschafft hat!»
KEREM MAURER