Brandschutz und die bunten Mauern von Tres Soles
15.07.2022 , Soziales, Serie, BildungNachdem der Leser in vielen Bolivienspalten unser Erziehungskonzept, unsere Philosophie, Leitlinien, Methoden, das pädagogische Theater und unsere Werkstätten kennengelernt hat, möchte ich in den nachfolgenden Bolivienspalten zum Thema «Kinder- und Jugendprojekt Tres Soles» auf kleinere oder eher alltägliche Geschehnisse eingehen, aber auch in dem einen oder anderen Artikel die Freiwilligen und Solesianer zu Wort kommen lassen, damit der Leser auch andere Sichtweisen erlebt. An dieser Stelle möchte ich einfügen, dass sich das Kinder- und Jugendprojekt Tres Soles gerade im Umbruch befindet, was jedoch nicht für das Studenten- und Lehrlingsheim Luis Espinal gilt, das wie üblich fortgeführt wird. Bis alle Prozesse abgeschlossen sind, werden noch einige Monate vergehen, aber ich hoffe, dass ich dem Leser spätestens zum Jahresende über einige Neuerungen berichten kann.
Heute möchte ich von zwei kleinen «baulichen» Massnahmen berichten und aufzeigen, wie man diese durchaus zu Lernzwecken oder therapeutischen Massnahmen nutzen kann.
Brandschutz
Am 8. März 2017 brach in einem staatlichen Kinder- und Jugendheim in Guatemala ein Brand aus. Über 40 Mädchen im Alter von 14 bis 17 Jahren starben, weil sie eingeschlossen waren und es keine Notausgänge gab. Leider wird auch der Brandschutz in Bolivien nicht besonders gross geschrieben. Die Behörden überhäufen uns zwar mit bürokratischen Auflagen, die wir zu erfüllen haben, deren Sinn sich uns nicht immer erschliesst, haben aber nie ein Brandschutzkonzept oder einen Evakuierungsplan von uns gefordert. Trotzdem haben wir in Tres Soles und Luis Espinal schon seit Jahren Feuerlöscher. Letztes Jahr wurde zum ersten Mal unter der Anleitung von Spezialisten eine Löschübung abgehalten. Dabei stellte sich heraus, dass es ein Problem gab, das wir dringend lösen mussten, und zwar ging es um Folgendes: Aufgrund der besonderen Problematik, die «unsere» Jugendlichen mit sich bringen, müssen die Schlafräume der grösseren Jungen und Mädchen strikt getrennt werden. Die Jungen haben ihre Zimmer im Untergeschoss, die Mädchen im Obergeschoss. Um zu verhindern, dass sie sich gegenseitig nachts aufsuchen, wird der Zugang zum Obergeschoss abgeschlossen. Den Schlüssel zu dieser Tür hat die Nachtbetreuerin, die zusammen mit den Mädchen im Obergeschoss schläft. Sollte ein Brand ausbrechen und die Nachtbetreuerin aus irgendeinem Grund nicht reagieren können, würde sich das Obergeschoss in eine tödliche Falle verwandeln. Darum hat unser Nachtbetreuer, der gleichzeitig auch in der Funktionen als Hausmeister tätig ist, eine Leiter entworfen und gebaut. Die einzelnen Sprossen der Leiter bestehen aus Metall und sind an ihren Enden rechts und links mit einem dicken Seil verknüpft, so dass die Leiter aufgerollt am Balkon des Obergeschosses befestigt werden konnte. Durch das Kappen eines Drahtes kann sie schnell heruntergelassen werden und dient somit als Notausgang. Bei unserer Übung, die wir mit allen Betreuern, Kindern und Jugendlichen abgehalten haben, konnten die Bewohner des Obergeschosses erfolgreich evakuiert werden.
Anderswo ist es selbstverständlich, dass solche Brandschutzkonzepte und Fluchtpläne schon beim Bau eines Gebäudes berücksichtigt werden. In Bolivien muss man kreativ sein, selber planen und Hand anlegen. Wie es unser Konzept vorsieht, wurden auch hier die Solesianer von Tres Soles teilweise eingebunden, indem die Jugendlichen sämtliche benötigten Schilder und Anleitungen selbst entworfen, gefertigt und bemalt haben. Vorausgegangen sein muss natürlich die Diskussion über die Frage, was die Schilder bezwecken sollen und wie der Text lauten sollte. Gott möge verhindern, dass wir sie je in einem Ernstfall anwenden müssen, aber wie schon das bekannte spanische Sprichwort besagt: «Es ist besser zu verhüten, als sich zu beklagen.»
Die bunten Mauern von Tres Soles
Im Verlauf der letzten Jahre haben wir um unser Grundstück herum eine Mauer bauen müssen. Nicht etwa, weil wir Angst hatten, dass die Kinder davonlaufen – nein, ganz im Gegenteil. Es war uns immer besonders wichtig, dass wir ein im wahrsten Sinne des Wortes offenes Projekt ohne Begrenzung sind, da die Kinderheime in Bolivien Gefängnissen gleichen, wo die Kinder hinter hohen Mauern leben müssen. Die Umfassungsmauer war leider notwendig geworden, weil die Region, in der wir leben, langsam verstädtert. Das heisst, dass die Kriminalität und andere städtische Erscheinungen wie Alkoholismus und Jugendbanden stark zugenommen haben. Es ist vorgekommen, dass sich plötzlich ein Betrunkener in unseren Hof verirrt hat, oder es haben sich einmal sogar vor den Augen der entsetzten Solesianer zwei verfeindete Jugendbanden derart geprügelt, dass wir die Polizei rufen mussten.
Die sehr lange Umfassungsmauer wurde daher gebaut und verputzt. Wie der Leser weiss, wird in unserem Projekt Kreativität gross geschrieben, da sie ein Teil unseres pädagogischen Erziehungskonzeptes ist. Nach und nach wurden deshalb in den letzten Jahren während der Ferien die Mauern bunt bemalt. Unsere Jahresfreiwilligen haben nicht nur mitgeholfen, sondern diese Aktion erst durch Spendenaufrufe in ihrer Heimat möglich gemacht, so dass wir entsprechend Farbe und Pinsel kaufen konnten. Bei dieser Aktion sind richtige kleine Kunstwerke entstanden und abgesehen davon, dass sie schön aussehen, wirkt das Malen – wie auch andere Kunstrichtungen (Musik, Theater und Tanz) – auf Kinder und Jugendliche beruhigend und therapeutisch. Auch wenn wir in Tres Soles mangels ausgebildeter Therapeuten keine eigentliche Maltherapie anbieten können, gehört das Malen zum festen Bestandteil unseres Erziehungskonzeptes, wie man auch am Beispiel unserer hergestellten Karten sehen kann. Wir glauben fest daran, dass eine äussere Ästhetik auch zu einer inneren Ästhetik, also zu einem «besseren» Menschen führen kann. In jedem Fall geht vom Malen eine heilende Wirkung aus. Darüber hinaus werden das Selbstvertrauen, Fertigkeiten wie die Koordination von Auge und Hand und Unterscheidungsfähigkeit bei Formen und Grössen gefördert. Es lohnt sich, die «Gemälde» auf unserer Website anzuschauen.
STEFAN GURTNER
Stefan Gurtner ist im Saanenland aufgewachsen und lebt seit 1987 in Bolivien in Südamerika, wo er mit Strassenkindern arbeitet. In loser Folge schreibt er im «Anzeiger von Saanen» über das Leben mit den Jugendlichen. Wer mehr über seine Arbeit erfahren oder diese finanziell unterstützen möchte, kann sich beim Verein Tres Soles, Walter Köhli, Seeblickstrasse 29, 9037 Speicherschwendi, E-Mail: walterkoehli@ bluewin.ch erkundigen. Spenden: Tres Soles, 1660 Château-d’Oex, Kto.-Nr. 17-16727-4. www.tres-soles.de
Die bunten Mauern von Tres Soles: www.tressoles.de/News, Seite 7.