Was man in 99 Jahren alles erlebt
10.11.2022 Porträt, Saanenland, Porträt99 Jahre alt zu werden - das schaffen nur die wenigsten. Wir haben mit Elsa Bertha Schlaepfer gesprochen, die diesen Meilenstein letzten Mittwoch erreicht hat. Und wir können alle etwas von ihr lernen.
NICOLAS GEISSBÜHLER
Das Zimmer im Alters- und Pflegeheim Pfyffenegg ist gross, geräumig und vor allem ordentlich aufgeräumt. Schaut man zum Fenster raus, offenbart sich einem einer der wohl schönsten Anblicke auf das Geltenhorn und das Spitzhorn, den man im Saanenland finden kann. Mittendrin, auf einem grossen Stuhl, sitzt Schlaepfer, gebürtige Zingre und damit Angehörige eines alten Saaner Geschlechts. Wir wollen mit ihr über ihr Leben, ihre Erinnerungen und ihre Ziele, die sie im hohen Alter noch hat, sprechen.
Aufgewachsen im Gstaad der Zwischenkriegszeit
Elsa Schlaepfer ist am 9. November 1923 in Gstaad geboren und wuchs dann im Saanenland auf. Ihr Vater Karl Zingre stammt ebenfalls aus dem Saanenland, ihre Mutter aus dem Unterland. Diese war das 18. Kind in ihrer Familie. Schlaepfers Vater war ein begeisterter Berggänger, wodurch seine Töchter diese Passion ebenfalls für sich entdeckten. Auch die Ferien verbrachten sie jeweils in der Region. «In den Ferien und am Wochenende haben wir meistens Bergtouren gemacht, wir gingen nicht ins Unterland oder so», meint Schlaepfer. Die Familie besass sogar ein Ferienhaus – in den Bergen oberhalb von Feutersoey – in dem sie meist den ganzen Sommer verbrachte.
Auch sonst beschreibt sie das Leben allgemein als sehr viel einfacher als heute: «Die Leute haben sich mit wenig begnügt. Wir hatten einen sehr grossen Garten, in dem wir vieles anpflanzten, dann kam noch der Krieg, da hat man sich wirklich mit weniger begnügt als heutzutags. In den Läden hatte man viel weniger Auswahl.»
Verliebt in den Scheidungsanwalt
Mit 20 Jahren verliess Schlaepfer schliesslich das Saanenland und zog nach Freiburg, um dort die Hauswirtschaftsschule zu machen und französisch zu lernen. Kurz darauf lernte sie einen Mann kennen, mit dem sie ihre erste Ehe einging und aus welcher zwei «wundervolle Kinder» hervorgingen. Kurz darauf folgte allerdings die Scheidung, durch welche sie ihren zweiten Mann kennen lernte. Es war ihr Scheidungsanwalt und es schien Liebe auf den ersten Blick gewesen zu sein: «In der allerersten Minute, als ich ihn gesehen habe, habe ich mich gleich verliebt. Und er sich eigentlich auch in mich. Und dann haben wir geheiratet und das war alles wunderbar.»
Zweite Ehe und Rückkehr nach Gstaad
Schlaepfer zog zu ihrem neuen Partner nach Genf in sein Gutshaus. Diese Zeit beschreibt sie als sehr schön, sie hatten einen grossen Garten und sind öfters ins Saanenland in Schlaepfers Elternhaus gereist.
Schlaepfer heiratete im Alter von 58 Jahren zum zweiten Mal ihren ehemaligen Scheidungsanwalt und war bis zu dessen Tod vor zehn Jahren 30 Jahre mit ihm verheiratet. Wenn Schlaepfer über ihn spricht, kommt sie ins Schwärmen, vor allem nach der gescheiterten ersten Ehe: "Mein zweiter Mann war wortwörtlich ein Engel." Schlaepfer zog nach seinem Tod endgültig ins Saanenland zurück und lebte in ihrem ehemaligen Elternhaus, dem Zingrehaus - oder zumindest an der Stelle des Elternhauses, denn sie liess das Haus vor einiger Zeit abreissen und durch einen Neubau ersetzen.
Liebe geben
Schlaepfer scheint zufrieden auf ihr Leben zurückzublicken. Dennoch frage ich sie, was sie denn noch erreichen möchte, was sie noch für Ziele hat im Leben. Ihre Antwort: «Ich will einfach noch lieb sein hier. Man muss sich nicht aufregen, wenn etwas nicht funktioniert. Ich bin stattdessen mit allen Leuten sehr lieb und bin dankbar, was sie für mich machen, und zeige das auch.» Ihr Ziel also: Liebe geben. Und Zeit mit ihren Kindern, Enkeln und Urenkeln (oder «Kinder, Kindeskinder und Kindeskindeskinder» wie Schlaepfer es ausdrückt) verbringen und ihnen diese Liebe weitergeben. Hundertjährig zu werden gehört allerdings nicht zu ihren grossen Zielen: «Irgendwann ist dann auch mal gut.»
Kräuter sammeln und massvoll leben
Tipps für ein so langes Leben, wie es Schlaepfer führen durfte, will sie allerdings keine geben. Sie betont dennoch, dass sie in ihrem Leben nie übertrieben und immer massvoll gelebt habe. Dies legt sie allen Menschen nahe, es gleichzutun. "Wir haben viel Kräuter gesammelt, waren jeweils fünf Wochen im Sommer in den Bergen in unserem Chalet in Feutersoey." Auch das könnten laut Schlaepfer Gründe für ihr langes Leben sein. Zudem trank sie sehr wenig Alkohol, da ihr Vater ab einer gewissen Zeit abstinent lebte. Dies kam so, weil er in seinem Notariat einen Kunden hatte, der ein Alkoholproblem hatte, so bot er diesem an, gemeinsam abstinent zu leben. Beim Kunden funktionierte diese Strategie nicht wirklich, dafür bei der Familie Zingre. Diese trank ab da kaum noch Alkohol, was auch ein Grund für das lange und gesunde Leben von Schlaepfer sein könnte.
«Früher war es schöner hier»
Fragt man Frau Schlaepfer danach, wie sie die Veränderungen im Saanenland während ihrer Lebzeit wahrnimmt, wird sie etwas wehmütig. Das naturbelassenere, bäuerlichere Saanenland ihrer Kindheit und Jugend schien ihr um einiges besser zu gefallen als der Status Quo. Sie findet es schade, gibt es immer weniger Grünflächen, immer weniger Kühe und immer weniger Bauern, dafür immer mehr reiche Touristen aus aller Welt, die den Bauern ihr Land zu utopischen Preisen abkaufen, um ihre Luxuschalets darauf zu bauen. So hat sie vor einiger Zeit das Ferienchalet der Familie in Feutersoey an einen einheimischen Bauern verkauft, der die einfache Hütte nun an Unterländer vermietet und nicht etwa an reiche Touristen aus Übersee. Dies sei ihr sehr wichtig gewesen beim Verkauf und so weiss sie das Chalet nun in guten Händen.
Dennoch sieht sie auch positive Entwicklungen: "Es ist natürlich auch anständig geworden und gut." Sie meint damit die positiven Folgen der Modernisierung.
Zu fit für das Altersheim
Wir sprechen noch darüber, wie es ihr hier im Alters- und Pflegeheim Pfyffenegg ergeht. Sie sagt, sie habe nicht viele Freunde hier, da die meisten Heimbewohner kognitiv weit weniger gut in Schuss seien als sie selbst. Das glaubt man sofort. Vor uns sitzt eine rüstige alte Dame, die geistig noch völlig fit ist. Sie kann selbst aufstehen und gehen – zwar langsam und bei längeren Strecken mit Rollator, doch sie schafft das alles alleine. Etwas, das in diesem hohen Alter alles andere als selbstverständlich ist. Sie erzählt uns, da ihre Kinder allesamt nicht mehr in der Region leben und sie selbst unbedingt im Saanenland bleiben wollte, sei dies die einzige Lösung gewesen - obschon sie den Haushalt bis vor einem Jahr noch komplett alleine führen konnte. Sie sagt aber auch, dass sie trotz der wenigen Freunde im Heim ihren Lebensabend definitiv geniessen könne. «Das Personal hier ist wahnsinnig gut», sagt sie. Ausserdem kommen ihre beiden Kinder sie mindestens einmal im Monat besuchen, meist mit Enkeln. Auch am Tag ihres 99. Geburtstags kochte sie zusammen mit ihrer Tochter im Zingre-Haus ein Mittagessen.