Im Bahnhof
15.12.2020 RegionSchreiben Sie gerne? Wir veröffentlichen Kurzgeschichten von Leserinnen und Lesern, die einen Bezug zum Saanenland haben oder deren Geschichten im Saanenland spielen.
6.33 Uhr: Der Zug fährt im Bahnhof ein, ich muss umsteigen. Mein Anschluss fährt erst in 28 Minuten. Gehe ich zum Kiosk, kaufe mir ein Buch? Oder halte ich beim Restaurant und esse ein Sandwich? Hunger habe ich keinen und lesen mag ich eigentlich auch nicht. Wenn nur diese Zugverbindungen besser wären. Dann müsste ich nicht die Zeit totschlagen oder hätte wenigstens später aufstehen können.
Ich entschliesse mich, im Wartesaal Platz zu nehmen, bis mein nächster Zug einfährt. Schliesslich ist es viel zu kalt, um draussen zu warten. Auf dem Weg dorthin kämpfe ich mich durch die Menschenmenge und versuche, beinahe tanzend, dem entgegenkommenden Strom auszuweichen. Endlich erreiche ich die Tür zum Wartesaal, öffne sie und setze mich auf den nächstgelegenen freien Platz. Die Tür schliesst sich und ich befinde mich wie in einer anderen Welt. Hier scheint die Zeit stehen geblieben zu sein. Alles ist ruhig, nur ab und zu öffnet sich die Tür, um Leute rein- oder rauszulassen.
Ich schätze, dass sich im Raum zwanzig bis fünfundzwanzig Leute befinden, nur einzelne Stühle sind frei. Die Wände sind dunkelblau gestrichen und das dämmrige Licht macht die Gemütlichkeit perfekt.
Die Frau neben mir ist in ein Buch vertieft, ein älterer Mann mit braunem Hut gegenüber scheint zu schlafen. Seine Brille sitzt etwas schräg, sein grauer Schnurrbart unter der grossen Nase flattert, wenn er seinen Atem durch den Mund ausbläst.
Eine junge Frau stillt ihr Kind und schaut es liebevoll an. Das Baby kann ich nur durch die Umrisse unter dem grünen warmen Mantel erkennen. Ich stelle mir vor, wie es vor lauter Geborgenheit beinahe einschläft.
Das kleine Mädchen in der Nähe der Tür fragt seine Mutter leise nach einem Bonbon. Nach unendlichem Warten erhält das Kind endlich die gewünschte Süssigkeit und befreit das Bonbon sofort von der lästigen Folie, welche das glänzende Rot einfach nicht hergeben will. Das Knistern des Plastiks erfüllt den ganzen Raum und am liebsten nähme ich auch so eines.
Ab und zu höre ich dumpfe, schlagende Geräusche. Ich erinnere mich, dass der Bahnhof stellenweise umgebaut wird. Doch hier lässt man sich nicht aus der Ruhe bringen. Ich drehe meinen Kopf nach links und blicke nach oben zur grossen Uhr und wende meinen Kopf wieder zurück. Und dann noch einmal: Ich kann es beinahe nicht glauben, kaum eine Minute ist vergangen!
Ich geniesse es. Wann habe ich mir in letzter Zeit solche Ruhe gegönnt? Ohne mich in einem elektronischen Gerät zu verlieren? Ach ja, mein Handy. Ein angefangenes Spiel wollte ich doch noch beenden, eigentlich könnte ich jetzt … Nein! Ich entschliesse mich, diese Ruhe vollumfänglich zu geniessen. So etwas möchte ich von heute an zur Gewohnheit machen.
Die Tür öffnet sich und ein altes Ehepaar kommt herein. Bevor sich die Tür schliesst, gelingt es mir, einen Blick in die andere Welt zu erhaschen. Ich kann nicht sagen in welche Richtung der Hauptstrom der Leute verläuft, zu viele suchen sich einen Weg durch den Menschendschungel. Die Tür schliesst sich wieder und ich mache mir Gedanken, wie es war, als ich vor einer Ewigkeit noch in jener Welt lebte, die durch Hektik und Zeitdruck regiert wird.
Ich lehne mich zurück und blicke nochmals auf die gemütlichen Zeiger der grossen Uhr. Immer noch massenhaft Zeit. Die Frau neben mit blättert eine Seite um. Was sie wohl liest? Für einen Science-Fiction-Schunken könnte ich mich gut erwärmen. Oder einen spannenden Krimi mit Holmes? Doch schätze ich meine Nachbarin anders ein. Vielmehr liest sie einen Liebesroman, denke ich mir. Um sie aber nicht zu belästigen, überwinde ich meine Neugier und forsche nicht in den Buchstaben ihres Buches, um das Geheimnis zu lüften.
Der ältere Mann gegenüber ist seit meiner letzten Beobachtung etwas tiefer in seinen Sitz gerutscht. Deshalb hängt nun nicht nur seine Brille schräg, auch sein brauner Hut scheint von seinem Herrn fliehen zu wollen. Soll ich ihn aufwecken? Vielleicht müsste er schon lange zu seinem Bahngeleise. Doch ich fühle mich zu wohl, schliesslich habe ich es mir auch gerade gemütlich gemacht. Mir fällt auf, dass kaum jemand spricht. Ist dies deshalb, weil dieser Raum eine andere Welt ist, in der jeder von der machthaberischen, hektischen Welt draussen beschützt wird? Oder ist es nur, weil früh am Morgen die meisten nicht richtig wach sind?
Auf jeden Fall muss es mehr solche Orte geben. Ich könnte mir Zeiten einplanen, um dem hektischen Alltag zu entfliehen. Oder ich geniesse von jetzt an jede einzelne Sekunde, ohne mich je wieder von der Hektik stören zu lassen.
Die Frau mit dem Kleinkind steht auf und schiebt den Kinderwagen zur Tür. Bevor sie diese erreicht, stehe ich auf und helfe ihr mit der Tür. Gemäss der Uhr wird es auch Zeit für mich, langsam diese Welt zu verlassen. So nehme ich meinen Mantel, blicke kurz in den Wartesaal zurück und verabschiede mich mit dem Versprechen, schon bald wieder hier zu sein. Dann schlüpfe ich durch die Tür.
Die Wirklichkeit im Sog der Menschen erfasst mich und meine Vorsätze sind vergessen. Der einzige Gedanke, welcher mich jetzt beschäftigt, ist, ob ich meinen Zug noch erwische. Ich habe den Kampf mit der Menschenmenge völlig unterschätzt. Ein harter Koffer stösst an mein Knie und ich werde wütend. Auch auf mich, da ich die Zeit nicht besser in Kontrolle gehalten habe. Schnell die Treppe hinauf, hoffentlich wartet der Zug. Das nächste Mal werde ich direkt am Bahngeleise warten und nicht die Zeit irgendwo in einem Wartesaal vertrödeln.
BRUNO MATTI
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ZUM AUTOR
Bruno Matti ist eigentlich ein Graf, genauer ein Polygraf. In der Freizeit schreibt er Geschichten, zeichnet und musiziert gerne. Als «Sit Down Comedian» unterhält er eine kleine Schar mit seinen komischen Alltagssituationen und pointierten Darstellungen. Er wuchs im Saanenland auf und lebt jetzt mit seiner Frau in Habkern.