Eine andere Weihnachtsgeschichte

  08.12.2020 Region

Vor mehr als 40 Jahren traf der Gstaader Bergführer Armin Oehrli im Lötschental den pensionierten Grenzwächter und Bergführer Willi Lehner. Die Geschichte, die ihm dieser bei einer Flasche Dôle erzählte, berührt – besonders in der Weihnachtszeit.

Willi Lehner traf ich anlässlich einer Tourenwoche rund um die Jungfrau im Berghaus Lauchernalp im Lötschental. Dort verbrachte er seinen Lebensabend im Betrieb eines Verwandten. Er war pensionierter Grenzwächter und Bergführer.

Mit einer Gruppe war ich auf meiner ersten Sommertourenwoche als frisch gebackener Bergführer unterwegs. Mein Auftrag, wie er mir erteilt wurde, das Wetter und die Gruppe würden eine weitere Geschichte ergeben.

Es war Anfang August 1977, die Gletscher tief verschneit und meine Gäste waren müde von der Schneestampferei der drei letzten Tage und legten sich früh zur Ruh. Willi setzte sich an meinen Tisch und stellte die übliche Fragen, die sich Bergführer stellen: «Woher, wohin, über welche Route?» Wir kamen in ein angenehmes Gespräch, während der Dôle, der im Literkrug zwischen uns stand, zusehends schwand. Willi erzählte von seiner Bergführerausbildung um 1930 und wie er als Grenzwächter ins Unterengadin kam. In den Dreissigerjahren war der Schmuggel ein gutes Nebeneinkommen für viele junge, verwegene Burschen aus den armen Bergregionen. Es war auch nicht aussergewöhnlich, wenn Schmuggler oder Grenzwächter von ihrer Tour nicht mehr nach Hause kamen.

Willi erzählte mir folgende Geschichte: «Es war spät im Herbst, ich hatte den Auftrag, im Val Trupchun nach Schmugglern oder Spuren von ihnen Ausschau zu halten. Es war trübes Wetter, vom Vortag lag etwas Schnee. Plötzlich traf ich auf eine Spur, die von der Forcla Trupchun herunterführte, talauswärts, dem zehn Kilometer entfernten S-chanf zu. (Die Forcla Trupchun liegt ca. zwei Wegstunden über dem Dorf Livigno, noch heute eines der Dörfer in den Alpen, die am weitesten von einer Stadt entfernt sind.)

Durch Fussstellungen, Schuhabdruck und Schrittlänge konnten wir einige der Schmugglerbanden erkennen. Diese Spur war mir aber nicht bekannt. Vorsichtig folgte ich der frischen Spur. Die Sicht wurde etwas besser, von einer Erhöhung aus konnte ich talauswärts plötzlich eine eilig marschierende Gestalt erkennen. Ich schlich mich näher heran und erkannte einen Mann, der eine Hutte trug. Ich folgte ihm, bis wir weiter unten im Wald waren. Hier hatte ich Gelegenheit, ihn bergseitig zu überholen. Weiter unten konnte ich ihm an einem Rank den Weg abschneiden. Er reagierte keineswegs wie die abgebrühten, verschlagenen Schmuggler. Er sah auch nicht aus wie diese, sondern er war bleich, ausgehungert und armselig gekleidet. Er tat mir fast leid. Hart fragte ich ihn, was er in der Hutte habe. Er stellte diese ab, schwieg und nahm das Tuch weg, mit dem er die Ware abgedeckt hatte. Ein richtiger Schmuggler würde seine Last nie abstellen, ausser auf der Flucht und ausserhalb der Schussweite. Er wirkte sehr bedrückt und zitterte. Die Hutte war voll mit neuen Schuhen. Ich entsicherte die Waffe und forderte ihn auf, die Hutte wieder aufzunehmen und mir voran zum Grenzposten in S-chanf zu marschieren.

Nun fing er an zu sprechen. Es war der Schuster von Livigno, die Schuhe wollte/musste er in der Schweiz verkaufen, denn er hatte neun Kinder und ohne den Erlös von den Schuhen würde er diese nicht durch den Winter bringen. Ich glaubte ihm.

Ich war wie halbiert: Halb war ich ein junger, ehrgeiziger Grenzer, der einen guten Fang auf den Posten bringen konnte – vielleicht winkte eine Beförderung und mehr Lohn. In der andern Hälfte meldete sich der arme Jüngling aus dem Lötschental: arme Kleinbauernfamilie, heizen mit getrocknetem Kuhmist, am Abend eine dünne Suppe, so dünn wie die Decke in den kalten Winternächten. Barsch forderte ich ihn auf, endlich die Last aufzunehmen und loszumarschieren.

Er flehte mich an, ihn laufen zu lassen, an seine ‹poveri bambini›, zu denken! In mir meldete sich wieder die Hälfte aus dem Lötschental. Vor meinen Augen sah ich die traurigen Augen meiner Mutter, wenn sie uns die dünne Suppe schöpfte. Er ging vor mir auf die Knie und bat mich, ihn gehen zu lassen. Er lud mich ein zum Weihnachtsfest nach Livigno, dort könne ich alle seine neun Kinder sehen.

In mir kämpften die beiden Hälften, der flotte Zöllner mit dem armen Lötschentaler. Der arme Lötschentaler siegte. Mit fester Stimme sagte ich ihm: ‹Vai!› Sein ausgemergeltes Gesicht erstrahlte, mit ‹Grazie, grazie, tante grazie!› und einem halb erstickten ‹Vieni a natale!› nahm er die Hutte auf und machte sich davon. Im Tagesrapport vom Rundgang im Val Trupchun vermerkte ich: ‹Nichts besonderes festgestellt.›

Einige Tage später fragte ich den Postenchef um Weihnachtsurlaub. Er war grosszügig und gab mir vier Tage frei, um genügend Zeit zu haben, ins Lötschental zu reisen. Mein Ziel war aber ein anderes. Auf Umwegen machte ich eine Skitour nach Livigno. Ich wusste ziemlich genau, wo meine Kollegen die Grenze nicht kontrollierten. Aber ich wollte wissen, wie ehrlich der Schuster von Livigno wirklich war. Die Einladung zur Weihnachtsfeier in der Kirche Livigno konnte auch eine Falle sein, um einen Schweizer Zöllner um die Ecke zu bringen. Sehr vorsichtig näherte ich mich der Kirche von Livigno, um die Messe an Heiligabend zu besuchen. Ich setzte mich auf eine Bank an der Längsseite des Kirchenschiffs, mit dem Rücken zu Wand. So war ich sicher, dass von hinten keine Gefahr drohte.

Nach der Messe hielt ich den Ausgang im Auge. Ich konnte den Schuster erkennen, im folgten tatsächlich viele Kinder. Ich beobachtete ihn, ob er irgendwo, irgendwem ein Zeichen gab. Nachdem ich nichts Verdächtiges festgestellt hatte, stellte ich mich mit dem Rücken zur Kirchenmauer. Aus der Gasse, in die der Schuster verschwand, kam ein etwa neunjähriger Knabe, schaute sich um, kam auf mich zu und fragte: ‹Svizzero?› Ich bejahte und folgte ihm. Der Weg war nicht weit. Die Hütte, auf die er zuging, war ärmlich, aber Kerzenschein strahlte aus den Fenstern. Rechts im Gang war die Küchentüre halb offen. Ein herrlicher Duft schlug mir entgegen. Die Türe links war offen und führte in eine einfach, aber saubere Stube. Der Schuster war dabei, die Kerzen am Weihnachtsbaum anzuzünden. Auf einem alten Sessel sass der Pfarrer, der mich freundlich hereinwinkte. Der Schuster machte einen Knicks vor mir und drückte mir fest die Hand. Vier Knaben sassen auf dem Ofen. Ein grosser Tisch war mit Kerzen beleuchtet und mit Tannzapfen dekoriert. Die Frau des Schusters betrat die Stube mit einer grossen Platte Polenta und Gemspfeffer. Ihr folgten fünf Mädchen mit weiteren Köstlichkeiten, die sie auf dem Tisch ablegten.

Nach dem Tischgebet wurde gegessen und getrunken. Laut dem Pfarrer hatten viele Bewohner vom Dorf Zutaten gebracht, um dem gnädigen Schweizer Zöllner ein Festmahl zuzubereiten. Nach dem Essen sang die Familie Weihnachtslieder, einige Kinder spielten mit Flöten, die der Schuster offensichtlich selbst gebastelt hatte. Es war das allerschönste Weihnachtsfest, das ich erlebt habe.»

So beendete Willi Lehner seine Geschichte. Es war Zeit zum Schlafen, der Dôle ausgetrunken.

Wie viel besser könnte die Welt sein, wenn es uns öfter gelingen würde, Gnade vor Recht zu stellen? In diesem Sinne wünsche ich allen ein frohes und besinnliches Weihnachtsfest.

ARMIN OEHRLI


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