Inspiration über den Tod hinaus

  02.10.2020 Kirche, Lauenen, Region

Ein Sprung zurück in der Zeit bringt uns in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts. In diesen Jahren schrieb eine Frau durch ihre starken Prinzipien und ihr unermüdliches Engagement Geschichte. Sie war eine Lauenerin.

NADINE HAGER
So inspirierend, dass sie zu den bedeutendsten Berner Frauen gezählt werden kann: Anna von Wattenwyl prägte ihre Zeit gleichermassen im Guten, wie sie diese in Aufruhr versetzte. 1841 kam sie in Lauenen als Tochter einer frommen Patrizierfamilie zur Welt und wuchs als Tochter eines Pfarrers im Pfarrhaus von Reichenbach auf. Immer mehr fand sie mit der Zeit ihren Weg zu Jesus Christus. Ab der Mitte ihres Lebens wirkte sie deshalb bis ins hohe Alter mit Elan und Unbeirrbarkeit im Dienste der Heilsarmee – dabei trotzte sie allen Widerständen der damaligen Zeit.

Eine weitreichende Entscheidung
Als Diakonissin reiste Anna von Wattenwyl in jungen Jahren mit ihrer älteren Schwester weit herum. So lernte sie während Verwandtschaftsbesuchen London und Paris kennen. Doch nicht alles verlief nach Plan: Von einer ihrer Reisen nach England kehrte sie als junge Frau schwer erkrankt zurück und rang mit dem Tod. In dieser Krise wurde sie mit den existenziellen Fragen des Lebens konfrontiert und fragte sich, ob sie mit der Gestaltung ihres Lebens zufrieden würde sterben können – insbesondere, ob sie bisher eine gute Christin gewesen sei. Als sie dann auf dem Weg der Genesung von einem Missionar besucht wurde, entschied sie sich, ihr Leben von da an ganz Jesus Christus zu widmen.

Immer mehr innere Überzeugung
In den nächsten Jahren machte sich Anna von Wattenwyl aufgrund dieser tiefgreifenden Entscheidung auf die Suche nach Erlösung und Seelenheil. Im Buch «Frauen folgen der Fahne» von der Heilsarmee Schweiz liest es sich heute wie folgt: «Und Anna verbannte aus ihrem Leben, was ohnehin nicht schon den Stempel der Einfachheit trug, alles, was auch nur entfernt mit der Mode oder dem äusserlichen Schein in Verbindung stand» – da alles Tun, das nicht direkt der Sache Gottes und dem Heil der Seelen diene, reine Eitelkeit sei und sie dies erkannt habe.

Zusätzlich begann Anna von Wattenwyl, wenn auch etwas schüchtern, Krankenbesuche zu machen und Kinder für die Sonntagsschule zu gewinnen. Motiviert durch ihren Erfolg in diesen Versuchen, schloss sie sich daraufhin während des Deutsch-Französischen Krieges 1870/71 einer Gruppe von Berner Diakonissen an, welche verwundete Soldaten beider Seiten pflegte.

Wenige Jahre später gelangte Anna von Wattenwyl zu der tiefen christlichen Erkenntnis, dass die Erlösung durch den Opfertod Jesu bereits vollzogen sei und sie diese nur «im Glauben anzunehmen brauchte», wird in «Frauen folgen der Fahne» erläutert. Auf diese Weise habe die Christin einen Sieg über die inneren, verborgenen Sünden errungen – und sei in ihrem gläubigen Weg bestärkt worden. Darauf ist es zurückzuführen, dass Anna von Wattenwyl begann, immer mehr Mut für ihr gläubiges Engagement aufzubringen. 1875 sorgte sie deshalb aus innerer Überzeugung ihres Glaubens dafür, dass in Gurzelen ein Versammlungssaal erbaut wurde, welcher engagierten Christen die Predigung des Evangeliums ermöglichte.

Die Heilsarmee kommt ins Spiel
Anlässlich einer Reise nach London, die Anna von Wattenwyl mit der Predigerin Mrs. Baxter unternahm, lernte sie zum ersten Mal die Heilsarmee kennen. Diese christliche Freikriche war zu dieser Zeit verpönt, da sie als Sekte abgetan wurde, welche vom wahren Glauben abweicht. Wie die Lauenerin ihre Meinung über die salutistische Bewegung bei der ersten Begegnung mit dieser änderte, wird in «Frauen folgen der Fahne» folgendermassen beschrieben: «Gewiss, diese Salutisten waren lärmige Leute, aber beseelt von einer grossen Liebe zu den Verlorenen und den Ärmsten. Hier sah man die Lehre der Heiligung verwirklicht, das heisst im täglichen Leben ausgelebt. (...) Sie atmeten Bestimmtheit und Heilsgewissheit.» Da die Salutisten alle Gesellschaftsschichten zu erreichen vermochten und Frauen genauso wie Männer eingeladen waren, sich ihnen anzuschliessen, hinterliess die Heilsarmee einen bleibenden inspirierenden Eindruck bei Anna von Wattenwyl.

Der entscheidende Schritt
Noch zögerte die Lauenerin jedoch, sich der Heilsarmee tatsächlich anzuschliessen – sie wollte sich nicht binden. Trotzdem marschierte sie mit den Salutisten durch London, um bei Bekehrungen zum Christentum dabei zu sein und so auch Leidende von der Strasse zu holen. Ausserdem unterstützte sie die Salutisten später in Paris, um ihnen «im Heilskriege beizustehen» – also Sünden, Unglauben und Verzweiflung mit der Lehre des Evangeliums aufzulösen.

Bis 1886 erlebte die Heilsarmee dann einen solch grossen Aufschwung, dass sie von England auch auf die Schweiz übersiedelte und sich hier zu verbreiten begann. In dem bereits zitierten Buch heisst es: «Heilsarmeeoffiziere kamen nach Zürich, und nun wusste Anna, dass sie zu ihnen gehörte. Sie schob jegliches Für und Wider beiseite, und in den Kreisen der guten Gesellschaft vernahm man mit Bestürzung, dass ein Fräulein von Wattenwyl sich der damals umstrittensten Armee der Welt angeschlossen hatte.» Damals war die Lauenerin 45-jährig und verspürte trotz heftigen, mit Vorurteilen behafteten Reaktionen keinerlei Zweifel an ihrem Entschluss.

Mit Hingabe und Entschlossenheit
Spätestens jetzt steckte Anna von Wattenwyl ihr ganzes Herzblut in die Tätigkeiten der Heilsarmee. Zunächst predigte sie und sorgte auf diese Weise für Bekehrungen: «Die Liebe Gottes, die in den Herzen der Heilssoldaten wohnte, vollbrachte Wunder. Aus den Gegnern der Armee gingen kämpfende Salutisten, ja Offiziere hervor», wird die Wirkung der Verkündigungen in «Frauen folgen der Fahne» beschrieben.

Die täglich gelingenden Bekehrungen änderten aber trotzdem nichts an den gesetzlich auferlegten Verboten, mit denen versucht wurde, die Aktivitäten der Heilsarmee zu unterbinden. So kam es, dass Anna von Wattenwyl mit fünf Offiziersschülerinnen auf der Strasse festgenommen wurde wegen «gesetzwidrigen Marsches und militärischen Schrittes». Diese damals äusserst schändliche Verhaftung belustigte sie eher, statt dass sie sich dadurch von ihrem Glauben hätte abbringen lassen. Das erwähnte Buch beschreibt: «Kapitänin von Wattenwyl zog es vor, Gott statt den Menschen Gehorsam zu leisten. Daraufhin wurde sie zu einer Gefängnisstrafe verurteilt.» Dem Polizeibeamten habe sie mitgeteilt, dass sie diese Verurteilung als nicht im Einklang mit der Verfassung der freien Schweiz betrachte und sich weigere, von ihrer inneren Überzeugung abzuweichen.

Die letzte Verhaftung
Anna von Wattenwyl war die letzte Heilsarmeeoffizierin, die wegen ihres Glaubens ins Gefängnis gesteckt wurde. «Später pflegte sie auf die Ereignisse eher mit Befriedigung zurückzuschauen und ihrer Freude darüber Ausdruck zu geben, dass die Salutisten ebenfalls Waffen besassen, wenn auch nur die des Mutes und der Liebe», heisst es in «Frauen folgen der Fahne». Später, als sie wieder auf freiem Fuss war, kam es erneut zu Zusammenstössen mit der Polizei. Dann jedoch wurde sie vorgeladen, damit der Polizeikommissär ihr mitteilen konnte, dass ein wichtiger Beamter mit seiner Kündigung gedroht habe, wenn er den sich sittlich verhaltenden Salutisten weiterhin mit Härte begegnen müsse. Der Kommissär versprach ihr, von nun an Märsche der Heilsarmee zu erlauben.

Schweiz: Aufschwung der Heilsarmee
Nach diesem Triumph war Anna von Wattenwyl erst recht nicht mehr zu bremsen: Sie arbeitete in der Redaktion des «Kriegsrufes», dem damaligen Printprodukt der Heilsarmee, mit und leistete wertvolle Dienste als Übersetzerin für den Gründer der Heilsarmee, General William Booth aus London, welcher durch die Schweiz reiste.

Bald war die Heilsarmee in der Schweiz genug herangewachsen, um auch ihre soziale Tätigkeit aufzunehmen. Durch verschiedenste Einsätze war Anna von Wattenwyl am Aufbau des sozialen Hilfswerks der Heilsarmee entscheidend beteiligt: Sie half während eines harten Winters bei der Gründung von Zufluchtsstätten für Obdachlose in Zürich und engagierte sich beim Aufbau und der Leitung eines Heims für Mädchen. Ausserdem leitete sie die Gründung einer Institution, aus der später ein Frauenheim entstand. Für ihr grosses Engagement wurde Anna von Wattenwyl schliesslich mit dem Rang des Oberstleutnants geehrt. «Ihre Verantwortung erstreckte sich über die verschiedenen Institutionen für Frauen und Töchter. Es gehörte zu ihren Pflichten, diese Heime regelmässig zu besuchen», wird die Verantwortung der Lauenerin in «Frauen folgen der Fahne» zusammengefasst. Als Krönung ihrer Aktivität gründete sie schliesslich in Gurzelen einen Aussenposten der Heilsarmee. Auch dieser traf auf heftigen Widerstand – fand am Ende aber dennoch breite Akzeptanz.

Allen Widerständen zu Trotz
Sie hatte ihren eigenen Kopf, diese Anna von Wattenwyl – nicht die Ablehnung ihres Umfelds und auch nicht eine Verhaftung mit anschliessender Haftstrafe vermochten sie von ihrem Glauben abzubringen. Bis zu ihrem Lebensende 1927 trug sie ihre Heilsarmeeuniform mit unvergleichlichem Stolz. Doch sie nahm nicht nur ihre Lebensgestaltung unabhängig aller Wertung selbst in die Hand. Auch ihre Mitmenschen bewog sie zu einem Umdenken und zu weniger Härte. So gelangten mit der Zeit nicht nur Familie und Freunde zu der Einsicht, das ihre Entscheidung des Beitritts in die Heilsarmee die richtige gewesen war – auch allgemein öffnete Anna von Wattenwyl die Herzen der Schweizer für die Mission der Heilsarmee.

«Es bereitete Anna ungetrübte Freude, den am meisten verzweifelten Menschen das Heil zu bringen. Die Versammlungen in den Heimen gestaltete sie dank ihrem strahlenden Wesen zu machtvollen kleinen Kundgebungen, in denen sie den armen Frauen und den unglücklichen Mädchen, die in diesen Heimen Aufnahme gefunden hatten, die Liebe und Gnade Gottes nahebrachte», wird ihre besondere Ausstrahlung in «Frauen folgen der Fahne» beschrieben.

Von der Inspirierten zur Inspirierenden
«Bis zu ihrem Ende war die Gewissheit ihres Heils und der kommenden Herrlichkeit der Grund dafür, dass ihr ganzes Wesen Heiterkeit und Freude ausstrahlte», heisst es in dem bereits zitierten Buch. Anna von Wattenwyl als Person und natürlich ihr unerschrockenes Engagement machten sie zu einer angesehenen Persönlichkeit.

Ihre Nichte fühlte sich so sehr von ihr inspiriert, dass sie sich nach dem Vorbild ihrer Tante der Tätigkeit der Heilsarmee verschrieb. «Das leuchtende Vorbild für die junge Christine war Oberstin Anna von Wattenwyl, ihre Tante. Schon als kleines Mädchen besuchte sie regelmässig die Versammlungen der Oberstin in Gurzelen, wo sie auch ihre Bekehrung erlebte. Früh hatte sie den Wunsch, Jesus Christus zu dienen», erklärt das Buch «Frauen folgen der Fahne». Und so wurde auch sie zu einer bedeutenden Bernerin, pflegte Verwundete während des Ersten Weltkrieges und baute die Gefangenenfürsorge in der Schweiz auf.

Anna von Wattenwyl wirkte über ihren eigenen Tod hinaus und prägte nicht nur ihre Zeit im Guten, sondern trägt auch heute noch Inspiration in die Welt hinaus – weil sie ihren eigenen Weg wählte und mit viel Herz ging.

Mehr Informationen zu Anna von Wattenwyl, aber auch anderen wichtigen Persönlichkeiten der Heilsarmee finden sich im Archiv des Heilsarmee-Museums in Bern: Laupenstrasse 5, 3008 Bern, Tel. 031 388 05 91.


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