«Musique & Famille» betört und verzaubert

  18.07.2016 Kultur

Das Gstaad Menuhin Festival & Academy startete am vergangenen Donnerstag Abend kraftvoll in den Festivalsommer und wartete während der ersten Festivaltage bereits mit Superstars der Extraklasse auf. Die Schwestern Labèque verführten mit einem Abend voller Höhepunkte, Familie Menuhin ehrte das Festival mit ihrer Präsenz und liess sich von Mozarts Requiem umgarnen.

BLANCA BURRI
Am vergangenen Donnerstag schlugen die Glocken der Kirche Saanen seit der Sanierung des Turms zum ersten Mal. Pünktlich also, um das 60-Jahr-Jubiläum des Menuhin Festivals und den 100. Geburtstag des Gründervaters Lord Menuhin einzuläuten.

Eine Wiese voller blühender Blumen
Für den Eröffnungsabend luden die Schwestern Katia und Marielle Labèque zum Klavierabend ein. Zwei- und vierhändig führten sie virtuos durch ein Konzert mit vielen kleinen Stücken. Der Abend könnte mit einer Wiese voller bunter blühender Blumen verglichen werden. Die Bienen (die zwei Pianistinnen) setzten sich jeweils nur auf die schönsten Blüten, tranken etwas vom feinen Nektar und flogen weiter zur nächsten Blüte. So etwa bei der Pizzicato-Polka von Johann und Josef Strauss, die sie gefühlsbetont, leicht und verspielt interpretierten – es klang fast so wie aus einer Spieldose mit einer sich drehenden und tanzenden Prinzessin. Von leisen, fragilen Tönen schlug es schon bald in eine virtuos-dichte Stimmung um. Die ungarischen Tänze von Johannes Brahms: üppig, hinreissend, verspielt und einfach wundervoll, so wundervoll, dass das Publikum in einen spontanen Applaus verfiel, bevor die Schwestern den Schlusspunkt setzten. Die Künstlerinnen freuten sich darüber und liessen sich nicht aus dem Konzept bringen, sondern setzten weitere Akzente bis zum brillanten Schluss. Nach der Pause erfüllten leise, zurückhaltende Töne eines der Lieblingslieder der Labèque-Schwestern die voll besetzte Kirche: «Petit mari petite femme» von Georges Bizet. Die musikalische Reise führte über Igor Strawinsky und Francis Poulenc bis hin zum vom Jazz beeinflussten George Gershwin und verdichtete sich, je länger der Abend wurde.

Konzert noch nie in dieser Form
Obwohl die Schwestern es lieben, vor mehr als 50 000 Konzertbesuchern zu spielen, seien sie vom intimen, familiären Rahmen des Menuhin Festivals entzückt, sagten sie gegenüber dem «Anzeiger von Saanen». Das erste Mal in ihrer Karriere präsentierten sie diesen Konzertabend voller kleiner Stücke, ein Experiment, das sie auf Drängen von Intendant Christoph Müller wagten und das vollkommen gelang. «Es war grossartig, es fühlte sich wie ein Hauskonzert an», schwärmte Christoph Müller nach dem Konzert und Katia und Marielle Labèque ergänzten, dass sie nicht gedacht hätten, dass das Publikum so positiv darauf reagieren würde. Das Konzert sei für sie besonders intim gewesen, weil alle Stücke eine besondere Bedeutung in ihrem musikalischen Werden spielten. So hätten sie schon als Kinder Robert Schumanns «Bärentanz», «Gartenmelodie» und «Gespenstermärchen» tausendfach geübt. Nie dürfe man zu lange auf einer Taste verharren, weil die vierhändigen Stücke ineinandergewoben seien und die Tasten in der einen Zehntelssekunde von der einen Schwester und alsdann von der anderen Schwester angeschlagen werden müssten. «Da haben wir manchmal miteinander gestritten, bis es endlich funktionierte», schmunzelte Marielle.

Das Familienfestival
Am offiziellen Eröffnungsanlass erzählte der gutgelaunte Festivalpräsident Leonz Blunschi, wie das Saanenland zu seinem Menuhin Festival kam: «Familie Menuhin kam in den 1950er-Jahren jeweils im Sommer nach Gstaad. Und schon bald fragte der damalige Kurdirektor Paul Valentin den weltbekannten Geiger Menuhin an, ob er zur Animation der Sommersaison ein Konzert geben würde. Yehudi Menuhin sagte spontan zu und so spielte er zusammen mit Benjamin Britten 1957 das erste Menuhinkonzert in der Kirche Saanen, das dieses Jahr die 60. Ausgabe feiert.»
Leonz Blunschi zum Festivalthema «Musique & Famille»: «Die Familie ist die natürlichste und zugleich älteste Schicksalsgemeinschaft, denn man kann sich bekanntlich nicht aussuchen, wo einen der Storch deponiert.» Die Familienmitglieder stünden einem durch alle Höhen und Tiefen am nächsten. Auch könne eine Familie Talente wecken und beflügeln. Er philosophierte über die Komponistenfamilie Bach – und er meine damit keine Bachs aus dem Saanenland, sondern die Dynastie von Johann Sebastian Bach, welche jahrzehntelang die erste Geige in der Kirchenmusikszene gespielt hat. Er verwies auf den Bach-Abend mit Richard Tognetti von kommendem Freitag Abend. Leonz Blunschi betonte, dass das Festival dieses Jahr den Familien – Eltern und Kindern sowie Geschwistern – das Wort übergebe. Sie alle würden an die Keimzelle des Festivals erinnern: «Die Familie als Ursprung für jede schöpferische Tätigkeit.»

«Gstaad begeistert ganz besonders in diesen Tagen»
Unter den illustren Gästen befand sich auch der neu gewählte Regierungsrat Christoph Ammann. Er schwärmte von den vielen Anlässen im Saanenland und erwähnte dabei das Beachvolleyballturnier, das Swiss Open und im Besonderen das Gstaad Menuhin Festival. Er vertrat Regierungsrat Bernhard Pulver, der in den Ferien weilte. Er sei gerne nach Saanen gekommen, weil die Klassik für ihn seit früher Kindheit eine grosse Bedeutung habe. «Die klassische Musik eröffnet mir eine Gegenwelt, in der ich mich erholen kann, in der ich Inspiration und Kreativität finde.» Er informierte, dass der Kanton ab nächstem Jahr im Rahmen des neuen Kulturförderungsgesetzes das Festival noch stärker als bisher unterstützen werde. Das Festival ziehe jährlich rund 20 000 Besucher an und löse so indirekt und direkt 50 000 Logiernächte aus, die Wertschöpfung in der Region lasse sich mit rund 10 Mio. Franken beziffern. Er erwähnte aber auch die Unsicherheiten durch die Umsetzung der Zweitwohnungsinitiative, Brexit und die Einwanderungsinitiative, welche grosse Herausforderungen mit sich brächten.


SOL GABETTA – EIN WELTSTAR

Am Sonntag Abend war die Kirche von Saanen zum vierten Mal in Folge ausgebucht. Weltstar Sol Gabetta und Nelson Goerner spielten eine Gala zu zweit. Sie spielten zwei der fünf von Ludwig van Beethoven komponierten Cellosonaten (Nr. 5 und Nr. 3) sowie die Cellosonate g-Moll op. 65 von Frédéric Chopin. Die als grossherzig geltende Musikerin strahlte ins Publikum, als sie auf die Bühne trat, und sank danach in eine tiefe Konzentration. Sie strich, spielte und zupfte ihr Instrument und entlockte ihm eine erdigwarme Tonfarbe. Mit teils ernster, fast dunkler Miene beugte sie sich bei schnellen intensiven Stellen über ihr Cello. Sobald sich die Töne in die Höhe bewegten, tat sie das auch mit ihrer ganzen Ausdruckskraft. Ihre Miene hellte sich auf, ihr Körper streckte sich. Nie konkurrenzierten sich das Klavier und das Cello. Vielmehr spielten sich die zwei Musiker mit jedem Satz näher Richtung Ekstase. Das Zusammenspiel, aber auch der Wechsel zwischen Klavier und Cello flossen, ergänzten sich und betörten. Ein Spiel voller Gefühl und Hingabe, die Intonation sorgfältig gewählt, so dass es schien, als ob die Instrumente zum Leben erwachten und einen eigenen Lebenszyklus vollführten. Das Strahlen, die Leidenschaft und die Spielfreude machen Sol Gabetta zu dem, was sie ist: ein Weltstar, der mit den besten Dirigenten und Orchestern spielt und soeben das Eröffnungskonzert der renomierten Proms in London mit dem BBC Symphony Orchestra unter der Leitung von Sakari Oramo bestritten hat. Ihr nächstes Konzert wird sie am 6. August im Festivalzelt geben.


GEDENKKONZERT ZU EHREN DES GRÜNDUNGSVATERS MENUHIN

Der Freitag- und der Samstagabend standen ganz im Zeichen von Gründungsvater Lord Yehudi Menuhin. Ihm zu Ehren erfüllten die Klänge von Mozarts Requiem die Kirche von Saanen, die Menuhin so geliebt hat. Unter der Leitung von Paul McCreesh vollführten der Chor und das Orchester der Gabrieli Consort & Players aus London Unglaubliches. Die Stimmen der vier Solisten verschmolzen mit dem Chor und dem Orchester. In einer einzigartigen Vibration setzten sie vielstimmige Akzente, die das Publikum einmal lieblich schmeichelnd umgarnten oder aber mit Pauken und Trompeten zu Höhenflügen ansetzten.
Ein Teil der Familie des Gründervaters war anwesend, zum Beispiel Tochter Zamira Benthall-Menuhin. Sie sagte nach dem Konzert gegenüber dem «Anzeiger von Saanen»: «Das Konzert hat mich tief berührt, ich spürte, dass die Seele meines Vaters ganz nah bei uns war.» Es sei eine sehr grosse Ehre, Menuhins Tochter zu sein.
Vor dem Konzert gab Menuhins Enkel Dominic Benthall einen Einblick in das Leben der Menuhin-Familie in Gstaad. Sein vielbeschäftigter Grossvater sei immer unterwegs gewesen und deswegen habe ihn die Familie selten gesehen. Eine sichere Konstante habe aber der Sommer-Ferienaufenthalt in Gstaad gebildet. «In dieser Zeit lernten wir ihn von einer ganz anderen, sehr intimen Seite kennen», so Benthall. In Gstaad habe er Frieden und Ruhe gefunden – obwohl: diese zwei Begriffe habe Menuhin anders definiert als andere Leute. Im Haus seien nämlich stetig Gäste ein- und ausgegangen. Er würdigte auch das Festival: «Wenn mein Grossvater noch lebte, wäre er über die Entwicklung zum heutigen Festival sehr glücklich», schloss er.
 


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