Stallweihnachten
11.12.2023 LeserbeitragFür die Weihnachtsbeilage haben wir viele tolle Geschichten erhalten, die wir Ihnen nicht vorenthalten wollen. Bis Weihnachten präsentieren wir Ihnen alle, damit Sie sich auf die Feiertage einstimmen können. Nachfolgend eine Weihnachtsgeschichte von Regula Tanner aus Amsoldingen.
Die Gäste applaudierten höflich, als Bundesrat Leo Weiss seine Ansprache am Heiligabend im Gstaader Nobelhotel beendete. Er nickte in die Runde, wechselte ein paar Worte und schüttelte Hände.
Eine Stunde später sass er im Fond einer Limousine und sah das Simmental im Dämmerlicht dieses kühlen, grauen Tages vorüberziehen. Er liess den Kopf auf die Lehne sinken. Wie müde er sich fühlte nach all den Anlässen. Er freute sich, endlich nach Hause zu kommen. Auf einmal war er hellwach. Er hatte noch kein Geschenk für seine Frau! Beatrice würde Schmuck bekommen, wie jedes Jahr, aber sie hatte sich diesmal eine Überraschung gewünscht.
«Nur etwas Kleines, Einfaches», hatte sie gebeten, «etwas, das du ganz allein für mich aussuchst.»
Ein ratternder Ton riss Weiss aus seinen Gedanken. Er sah, dass Rauch aus dem Kühler quoll. Der Chauffeur lenkte die Limousine an den Strassenrand.
«Was ist los?» fragte der Bundesrat.
«Eine Panne, Chef!»
Weiss ballte die Hände zu Fäusten. Das durfte nicht wahr sein! Er stieg aus, schritt unruhig auf und ab, während der Chauffeur die Pannenhilfe organisierte. Mittlerweile war es dunkel geworden. Er sah ein Licht durchs Geäst schimmern. Vielleicht war das ja ein Weiler mit einem kleinen Laden, wo er ein Geschenk finden würde.
Er marschierte los. Es hatte zu regnen begonnen, und bald waren seine Schuhe mit kleinen Spritzern übersät. Als er einen Bauernhof erreichte, wollte er wieder umkehren. Da fiel sein Blick auf den Käseautomaten neben dem Stall. Ein Stück frischer Käse, dachte er, das ist das perfekte Geschenk! Er leuchtete mit der Taschenlampe seines Handys in den Automaten und entschied sich für ein stattliches Stück Alpkäse. 12 Franken 40 kostete es, und er griff nach seiner Bankkarte. «Nur Bargeld», hiess es da. «Mist», knurrte Weiss. Er musste zu seinem Chauffeur zurück und ihn um Geld bitten.
Als er wieder beim Automaten ankam, warf er die Münzen ein. Mittlerweile hing ihm das Haar in Strähnen ins Gesicht. Er drückte auf die Zahlenkombination und wartete, bis der Alpkäse ins Abholfach purzelte. Doch nichts geschah.
«Was soll das?» fragte er gereizt.
Der Automat antwortete nicht. Weiss klopfte an die Scheibe. Nichts regte sich. Auf einmal brach die Wut, die schon lange in ihm lauerte, aus ihm heraus.
«Verdammt!», schrie er und hämmerte so kräftig an die Scheibe, dass diese mit lautem Klirren zerbarst.
Ein jäher Schmerz durchfuhr seine Hand, und als er sein Handy darauf richtete, sah er, dass Blut hervorquoll. Er schluckte schwer. Dann zog er seinen Kaschmirschal vom Hals und wickelte ihn um die Hand. Mit der gesunden Hand wählte er die Nummer seines Chauffeurs. Doch der Empfang war schlecht und der Akku fast leer. Eine Nachricht von Beatrice flackerte kurz auf, dann wurde der Bildschirm schwarz. Weiss stöhnte. Erneut trat er den Weg zum Auto an. Er war nicht weit gekommen, als er eine kräftige Stimme vernahm.
«Was fällt dir ein, du Halunke! Den Automaten zerstören und dich aus dem Staub machen!»
Ein stämmiger Bauer trat aus dem Stall. Sein Gesicht war rot vor Zorn.
«Ich, ich…wollte nur Hilfe holen», stammelte Weiss und hob zur Erklärung seine Kaschmirhand.
«Warte nur, ich werde dir schon helfen», brüllte der Bauer.
«Ruedi, was ist los?» Eine Frau mit dickem blondem Zopf schaute aus der Tür des Bauernhauses. Der Bauer brummte etwas von «Fagant», «Käseautomat zerstört» und «wir sind noch nicht fertig zusammen» und stapfte davon. Die Frau blickte ihm hinterher und schüttelte den Kopf.
«Kommen Sie in die Küche», sagte sie zu Weiss, «ich schaue mir Ihre Hand an.»
Kurz darauf war die Hand mit der Kräutersalbe der Bäuerin von Känel versorgt und in einen Verband gewickelt.
«Setzen Sie sich doch zu uns!» Sie schenkte ihm eine Tasse Milchkaffee ein.
«Wenn ich Sie so anschaue, gleichen Sie fast ein bisschen diesem Bundesrat», sagte sie und lachte. «Stimmt doch, Ruedi, oder?»
Der Bauer brummte etwas Unverständliches.
Weiss lächelte verlegen. «Wir werden oft verwechselt.»
«Wenn der sich nur etwas mehr für uns Bergbauern einsetzen würde», sagte die Bäuerin. «Aber nein, der schaut nur zu den Reichen in Gstaad.»
Leo Weiss rührte stumm in seinem Milchkaffee.
Da klopfte es. «Das wird Bea sein», sagte die Bäuerin, «ich schicke sie gleich in den Stall. Sie freut sich immer, wenn sie melken darf.»
«Kann ich auch etwas helfen?», fragte Weiss, «zum Beispiel die Scherben beim Käseautomaten zusammenkehren.»
«Danach können Sie noch den Stall ausmisten», brummte der Bauer.
Der Bundesrat betrat den Kuhstall. Er wollte nach einer Schaufel greifen, als er die Frau bemerkte, die beim Melken half. Sie war in Stallkleider gehüllt und hatte eine Mütze auf, doch etwas an ihren Bewegungen kam ihm vertraut vor. Er konnte seinen Blick nicht von ihr abwenden.
«Beatrice?», fragte Weiss unsicher.
Langsam drehte sich die Frau um. Ihre Augen weiteten sich, dann lachte sie und rief: «Du?»
«Ja, ich», sagte Weiss.
«Was tust du hier? Ich dachte, in Gstaad habe es wiedermal länger gedauert.»
«Das ist eine lange Geschichte.»
Die beiden blickten sich an. Dann gingen sie aufeinander zu und fielen sich inmitten der stämmigen Simmentaler Kühe in die Arme. Sie hielten sich, wie sie es schon lange nicht mehr getan hatten.
«Ich helfe gerne bei den von Känels aus», sagte Beatrice schliesslich.
«Warum denn?»
«In unserem schicken Haus und an all den Wohltätigkeitsveranstaltungen ist es mir fürchterlich langweilig. Ich wollte etwas Bodenständiges tun.»
«Warum hast du mir das nie gesagt?»
«Weil ich mich vor deiner Reaktion fürchtete.»
«Wenn es dir guttut, dann tue es», sagte Weiss.
Beatrice lächelte. «Danke.»
Leo Weiss griff zur Schaufel und kehrte den Mist zusammen. Bald pochte die verletzte Hand vor Schmerz, und der Schweiss lief ihm in Bächen über das Gesicht. Doch so gut wie jetzt hatte sich der Bundesrat schon lange nicht mehr gefühlt. Ab und zu blickte er zu der melkenden Beatrice, und ein Glücksgefühl durchströmte ihn. Heiligabend im Stall, dachte er, vielleicht gibt es doch noch Wunder.