Weihnachtsengel im Emmental

  21.12.2023 Leserbeitrag

Für die Weihnachtsbeilage haben wir viele tolle Geschichten erhalten, die wir Ihnen nicht vorenthalten wollen. Bis Weihnachten präsentieren wir Ihnen alle, damit Sie sich auf die Feiertage einstimmen können. Nachfolgend eine Weihnachtsgeschichte von Robert Schneiter aus Schönried, die er als «unsentimentale Weihnachtsgeschichte» bezeichnet.

Als nach Mitte Dezember wieder einmal das Weihnachtstauwetter einsetzte und der Regen den Schnee bis weit hinauf wegspülte, schlug das Herz von Berger Kari aus Eggiwil vor Freude viel höher als die Herzen der Tourismusverantwortlichen. Denn Kari war ein waschechter „Gümmeler“, ein leidenschaftlicher Rennvelofahrer. Aber der frühe Schnee und das nasskalte Wetter anfangs November machten ihm einen Strich durch die Rechnung. Trotz seiner 74 Jahre sass er während des Sommers fast Tag für Tag im Sattel. Nur wenn es wirklich ganz steil aufwärts ging, musste er jeweils altershalber ganz kurz aus dem Sattel. In diesem Jahr hätten ihm nur noch 90 Kilometer gefehlt um endlich einmal 10‘000 Jahreskilometer feiern zu können. Berger Kari freute sich darum riesig, als der Wärmeeinbruch die Strassen bis auf fast 2000 Meter hinauf wieder ausaperte. Am 21. Dezember, am kürzesten Tag des Jahres, wollte er darum seine beneidenswerte Form noch einmal demonstrieren und eine längere Rundtour im Emmental machen. Er wollte das nachholen, was der frühe Schnee ihm genommen hatte. Am Computer plante er die folgende Strecke: Eggiwil – Trubschachen – Lüdernalp - Moosegg – Chuderhüsi – Schallenberg – Eggiwil. Knapp 100 Kilometer. Immerhin ein paar Kilometer mehr als nötig waren für die 10‘000 km!
Aber offenbar war der 21. Dezember, der kürzeste Tag im Jahr, nicht sein Tag. Schon am Morgen hatte er sich verschlafen und konnte erst nach dem Mittag starten. Aber es lief auch am Nachmittag nicht so wie geplant. Schon früh plagte ihn der Hunger. Und ausgerechnet heute hatte er seine Kraftriegel, den Energydrink und auch das Handy auf dem Küchentisch liegen gelassen. Aus Angst, einen Hungerast einzufangen, kehrte er darum im „Bären“ in Trubschachen ein und blieb dort dummerweise auch länger sitzen als geplant. Aber er fühlte sich seltsam kraftlos. Sein Körper signalisierte ihm, dass es besser wäre, die Tour abzubrechen. Aber sein Kopf sagte ihm: „Nein, ich doch nicht! Ich bin doch kein Weichei!“
Doch sein teures Rennvelo und sein Körper teilten seinen Ehrgeiz
nicht. Weil er müde war, schaltete er unkonzentriert und die Kette verklemmte sich. Und kaum sass er wieder im Sattel, hatte er auch noch einen Platten am Hinterrad. Schon wieder ging viel kostbare Zeit verloren. Und als er gegen Abend endlich oben beim Chuderhüsi angekommen war, verabschiedete sich das Tageslicht bereits. Kari hatte natürlich kein Licht am Rennvelo. Das war unnötiger Ballast. 
Unten in Röthenbach hätte er daher eigentlich direkt nach Eggiwil, nach Hause, fahren müssen, aber Kari fuhr wie geplant Richtung Süderen-Schallenberg. Denn ohne diese Zusatzschlaufe hätten ihm dann doch noch 14 Kilometer gefehlt. Und die SchallenbergStrecke kannte er ja sowieso so gut wie seinen Hosensack. Für diese Strecke brauchte er wirklich kein Licht. 
Aber obwohl er immer glaubte, alles besser zu wissen, wusste er doch etwas nicht: Dass nämlich im Hurichehr hinter dem Schallenberg ein paar Steine auf der Strasse liegen. Und ausgerechnet einen solchen Stein touchierte er mit dem Vorderrad. Es riss ihm das Vorderrad herum, und er wurde über die Böschung hinauskatapultiert. Wie lange er dort benommen liegen geblieben war, konnte er nachher nicht sagen. Aber es war stockdunkle Nacht als er wieder zu sich kam und sich dann mit allergrösster Mühe an den Strassenrand hinaufschleppen konnte. Die Schmerzen waren so enorm, dass er am liebsten hätte brüllen mögen. Aber es war ja niemand in der Nähe, der es hätte hören und ihm hätte helfen können. Darum stöhnte er nur hilflos in die dunkle Nacht hinaus. Denn auch das Handy lag ja zu Hause auf dem Küchentisch. 
Als seine Hoffnung, dass um diese Zeit noch irgendjemand vorbeifährt, in der Dunkelheit der Nacht verschwunden war, leuchteten dann doch noch plötzlich auf der Passhöhe Autoscheinwerfer auf. 
Am Steuer des Autos sass Gina Fuhrer. Innerlich hohl und leer kämpfte sie gegen die Tränen und ihren Lebensfrust. Ziellos fuhr sie seit Stunden kreuz und quer durchs Emmental und durch die Nacht. Auch durch ihre ganz persönliche Nacht. Schon von weitem sah sie im Scheinwerferlicht eine Person am Strassenrand sitzen. Aber für sie war klar: Wenn es ein Mann ist, dann darf sie nicht anhalten. Denn in der Nacht nimmt man als Frau keine Autostopper mit. Langsam wollte sie vorbeifahren. Aber als sie dann das Blut überströmte Gesicht sah, waren plötzlich all ihre Bedenken verschwunden. Sie stoppte, schaltete die Warnblinker ein, nahm die Autoapotheke, stieg aus und fragte den Mann, was passiert sei. Kari erklärte ihr kurz sein Pech. 
Als Gina Kari notfallmässig verarztet und das Velo mit dem gebrochenen Carbon-Rahmen in ihrem Combi verstaut hatte, half sie ihm auf die Beine und ins Auto einsteigen. Miteinander fuhren sie schweigend nach Langnau ins Spital.
Unterwegs durchbrach Gina das Schweigen und fragte den Verwundeten: „Glaubst du an Engel?“ Trotz der Schmerzen im Gesicht lachte Kari lauter als nötig und sagte: „Im Kindergarten während der Proben fürs Krippenspiel, ja, da glaubte ich an Engel. Aber die Engel sind im Kindergarten geblieben. Engel sind doch nichts für erwachsene Menschen. Und auch die Weihnachtsgeschichte ist doch nichts anderes als ein Kindermärchen.“
Ein paar Minuten lang blieb es still im Auto, dann sagte Gina: „Du glaubst also nicht an Engel! Aber weisst du was? Mir ist plötzlich ein Licht aufgegangen: Du selbst bist ein Weihnachtsengel – ein Weihnachtsengel für mich!“ 
„Ich, ein Engel?“, sagte Kari völlig entgeistert. „Das glaubt ja niemand. Erzähl du das meiner Frau.“ Und ungewohnt selbstkritisch ergänzte er. „Ich bin doch nur ein ehrgeiziger Besserwisser, der nicht einmal die eigene innere Stimme ernst nimmt. Ich bin kein Engel und keine Freude für die anderen. Ich bin doch viel eher ein hilfloser Trottel.“
„Aber gleichwohl bist du in dieser Nacht ein Weihnachtsengel“, sagte Gina. „Auch solche, die vieles falsch gemacht haben im Leben oder sonst arm dran sind und Hilfe nötig haben, können Engel sein. Denn immer, wenn jemand Hilfe annimmt und sich helfen lässt, schenkt er oder sie denen, die Hilfe leisten, Lebenssinn. Und darum bist auch du in dieser Nacht ganz unabsichtlich zu einem Engel geworden!“
Und Gina erzählte Kari schliesslich ihre eigene Geschichte: „Bevor
ich dir begegnet bin, war ich nämlich total am Boden zerstört. Ich fühlte mich vollkommen wertlos, überflüssig und abgeschoben. Denn mein Freund, den ich liebte und mit dem ich schon seit sechs Jahren das Leben geteilt habe, hat mir heute Mittag erklärt, er empfinde nichts mehr für mich. Er habe sich in eine andere verliebt. Das hat mich total umgehauen. Ich weiss nicht, wie lange ich in dieser Nacht noch ziellos, sinnlos und gefährlich mit dem Auto umhergeirrt wäre, wenn ich dich nicht angetroffen hätte. Und darum bist du für mich ein echter Weihnachtsengel. Du hast mir gezeigt, dass ich gebraucht werde, dass ich eine wichtige Aufgabe habe, und dass niemand – auch kein langjähriger Freund – darüber entscheiden kann, ob ich ein wertvoller und liebenswerter Mensch bin oder nicht.“
Nach einer kurzen Stille, während Kari über das Gesagte nachdachte, sagte er: „So gesehen bist du aber ein viel grösserer Engel als ich. Denn ohne deine Hilfe wäre ich im wahrsten Sinne des Wortes wohl auf der Strecke geblieben. Du bist darum nicht nur ein Weihnachtsengel für mich, sondern ein Erzengel. Du hast mir in meiner grössten Not Hilfe geleistet und mir eine Chance geschenkt, das Leben noch einmal neu zu überdenken.“
Gina begleitete Kari schliesslich bis in die Notfallaufnahme. Als sie wusste, dass er nun in guten Händen ist, verliess sie das Spital. Und weil Engel nie einfach verschwinden, bevor sie ihren Auftrag ganz erfüllt haben, telefonierte Gina noch mit Karis Ehefrau und sagte ihr, was passiert ist, dass Kari jetzt in guten Händen ist und dass sie am Morgen das kaputte Rennvelo vorbeibringen werde.   
Am 24. Dezember kaufte Kari dann im Heimatwerk einen wunderschönen Engel und im Blumenladen einen bunten Blumenstrauss. Den Blumenstrauss schenkte er seiner Frau und den Engel stellte er gut sichtbar im Wohnzimmer auf. Und als seine Frau ihn völlig überrascht fragte: „Was ist jetzt in dich gefahren, Kari? Warum schenkst du mir jetzt plötzlich Blumen? Und warum glaubst du jetzt auf einmal an Engel?“ Da sagte Kari mit grösster Überzeugung: „Ich glaube jetzt an Engel, weil ich selbst in der Nacht vom 21. Dezember einem echten Erzengel begegnet bin!“      
 


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