Weihnachtslieder singen hilft immer
23.12.2023 LeserbeitragFür die Weihnachtsbeilage haben wir viele tolle Geschichten erhalten, die wir Ihnen nicht vorenthalten wollen. Bis Weihnachten präsentieren wir Ihnen alle, damit Sie sich auf die Feiertage einstimmen können. Nachfolgend eine Weihnachtsgeschichte von Thomas Raaflaub aus Köniz.
Vielleicht war es doch nicht so eine gute Idee, bei der Heimkehr von dem befreundeten Ehepaar in Neirivue eine Abkürzung zu nehmen und so der Strassensperrung wegen eines Unfalls bei Rossinière auszuweichen, die das Radio meldete. Wir stecken nun in einem Wald bei La Tine fest, weil das Auto keinen Mucks mehr macht. Vorhin, als ich mit einer Taschenlampe dem Motor unter der geöffneten Kühlerhaube gut zureden wollte, hat mich dieser mit einem elektrischen Schlag verscheucht. So sitzen meine Gattin und ich im dunklen Auto und verwünschen das Handy, dem der Strom fehlt, den der Motor zu viel hat. Auf die Hilfe anderer Reisender oder Anwohnern können wir nicht zählen, denn es ist stockfinster im Wald. Nirgends ist ein Licht zu sehen, das auf das Vorhandensein menschlichen Lebens hinweisen würde.
„Leuchte mal mit der Taschenlampe,“ unterbricht meine Gemahlin die Stille, „ich will sehen, was uns die Freunde mitgegeben haben.“ „Sehr originell,“ sage ich, als ich den Inhalt des Pakets sehe, „Kerzenhalter für den Baum und Kerzen. Wie wenn wir davon nicht schon genug hätten.“ Einige Zeit später stecken die Kerzen brennend in ihren Haltern und beleuchten die kleine Tanne, die wir uns als Weihnachtsbaum ausgesucht haben. Meine bessere Hälfte und ich singen zum dritten Mal und immerhin zweistimmig „Oh du fröhliche...“, weil wir bei diesem Lied alle Strophen auswendig können und weil wir danach zur Belohnung einen Schluck aus der Weinflasche und einen Bissen vom Kuchen nehmen, beides auch Geschenke aus Neirivue. Beim vierten Mal „Oh du fröhliche...“ ist mir, als ob ein hoher Sopran eine dritte Stimme mitsinge. Auch meine Ehefrau scheint es zu hören und blickt suchend um sich. Mit grossen Augen hört sie auf zu singen und schaut zu einem Hasen nieder, der als Einziger voller Inbrunst und mit geschlossenen Augen weiter singt.
Ich stosse meine Lebensgefährtin an und flüstere: „Du weisst doch, dass die Tiere an Weihnachten sprechen können. Wer sprechen kann, kann auch singen.“ Jetzt öffnet der Hase die Augen, schaut uns vorwurfsvoll an und sagt durch die Nase: „Das ist ein mickeriges Repertoire, das ihr bietet und Wein und Kuchen habe ich auch gerne.“ Frisch gestärkt singen wir „Stille Nacht, heilige Nacht“, „Es ist ein Ros' entsprungen“, „Adeste Fideles“, „Go tell it on the mountain“ und „Vive le vent“ - wir sind ja in der Romandie. Der Hase ist sehr textsicher, wir weniger und deshalb behelfen wir uns mit melodiösen „Uhs“ und „Ahs“, wenn wir Textlücken füllen müssen.
Bei „Jingle Bells“ stossen Bekannte des Hasen zu uns: Ein Hirschpaar, er mit gewaltigem Geweih, drei Rehe und zwei Rehböcke, eine Füchsin und ein Marderweibchen. Schön hallt es durch den Wald, als wir zusammen als zwölfstimmiger Chor „Ihr Kinderlein kommet“ singen. Als die Kerzen fast niedergebrannt sind, der Kuchen gegessen und die Weinflasche leer ist, murmeln die Tiere etwas von weiteren Verpflichtungen, die nicht aufgeschoben werden können. Zum Abschied umarmen wir uns alle. Bei der Füchsin muss ich mich ein wenig überwinden und meine Gemahlin kann sich kaum von den Rehen trennen. Sie winkt immer noch, als die Rehe schon lange in der Dunkelheit verschwunden sind. Zu meiner grossen Verblüffung springt der Motor sofort an, als ich einen Versuch wage, das Auto wieder in Gang zu setzen. Das Marderweibchen kriecht unter dem Auto hervor, stellt sich ins Scheinwerferlicht, errötet unter seinem Pelz vor Stolz und sagt: „Ich verstehe ein wenig was von Motoren... Frohe Weihnachten!“