Ist es Bill Gates? Oder sind es die Juden? Verschwörungen in Zeiten von Pandemie und Krieg
25.03.2022 KircheSie haben eine lange Geschichte und derzeit erfahren sie neue Aufmerksamkeit und Anhängerschaft: Verschwörungstheorien. Ihr Feld ist uferlos, nahezu jedes politische oder gesellschaftliche Ereignis, welches die Öffentlichkeit bewegt, kann mit einer Verschwörungsgeschichte verbunden werden. Als Beispiele sind die folgenden Erzählungen zu nennen:
• Im Hintergrund lenken die Juden die Geschichte. Sie wollen das herrschende System in verschiedenen Ländern absetzen und streben nach der Weltherrschaft.
• Die Anschläge vom 11. September 2001 wurden nicht von islamistischen Attentätern begangen, sondern von Geheimdiensten inszeniert.
• Die Kondensstreifen von Verkehrsflugzeugen sind Reste von Chemikalien, welche in die Atmosphäre eingebracht werden, um das Klima zu verändern oder die Menschheit gefügig zu machen.
• Die demokratische Partei der USA ist korrupt, tötet Kinder und gewinnt aus ihrem Blut einen Stoff, um ein Medikament für ewige Jugend herzustellen.
Auch um die Coronapandemie ranken sich etliche Verschwörungstheorien:
• Das Virus ist harmlos und wird in einer weltweiten Desinformationskampagne von den politischen Eliten benutzt, um die Freiheitsrechte der Bürger zu beschneiden.
• Die Pandemie wurde erfunden, um eine Zwangsimpfung durchzusetzen.
• Bill Gates, Klaus Schwab oder andere wollen allen Menschen einen Mikrochip einpflanzen, um sie zu kontrollieren.
Ferner finden sich Verschwörungstheorien auch rund um den Krieg in der Ukraine. Eine lautet: Die NATO und die USA haben Russland so lange provoziert, bis dessen Präsident nicht anders konnte, als zu einem Befreiungsschlag anzusetzen; Putin handelt gleichsam in Notwehr.
Was ist eine Verschwörungstheorie?
Verschwörungstheorien sind Auffassungen, welche ein gegenwärtiges Geschehen als Ergebnis einer heimlichen Manipulation der Wirklichkeit deuten. Mächtige Drahtzieher sollen in aller Stille einen Plan verfolgen und die Öffentlichkeit täuschen. Zu einer Verschwörungstheorie gehören die folgenden Überzeugungen und Forderungen:
• Die Wirklichkeit ist anders, als sie erscheint. Offiziellen Darstellungen ist unbedingt zu misstrauen, denn im Hintergrund zieht eine kleine, aber einflussreiche Gruppe die Fäden. Diese Elite manipuliert die öffentliche Meinung, um ihre wahren Ziele zu verschleiern.
• Wir kämpfen für die Freiheit, der gängigen Darstellung eines Sachverhaltes eine eigene Version zur Seite stellen zu dürfen. Wir sind gegen Deutungsmonopole und für Vielfalt, auch alternative Sichtweisen müssen ausreichend Gehör finden.
• Die Weltbevölkerung besteht aus drei Gruppen:
– den Verschwörern, einem kleinen, exklusiven Kreis, der im Verborgenen agiert und das Geschehen bestimmt;
– den Unwissenden, der grossen Masse des Volkes, welche systematisch dumm gehalten und geschickt manipuliert wird;
– den Wissenden, der kleinen Schar derer, welche dem Nebel der Täuschung entsteigen und nun mit repressiven Massnahmen eingeschüchtert werden.
• Chaos und Zufall existieren nicht; alles, was geschieht, hat einen Grund.
• Den gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Verantwortungsträgern ist grundsätzlich zu misstrauen. Sie nutzen ihre Macht zum Eigennutz und zum Schaden der Bevölkerung.
Warum sind Verschwörungstheorien so attraktiv?
• Spätmoderne Gesellschaften sind komplex, unübersichtlich und schwer zu durchschauen. Eine Verschwörungserzählung reduziert die vielschichtige Wirklichkeit auf ein einfaches und fassbares Schema.
• Wenn die Welt nicht von Zufall, Chaos oder einem nicht zu steuernden, komplexen System bestimmt wird, sondern von einer kleinen, verschworenen Gruppe, dann besteht Hoffnung. Denn in diesem Fall können wir Ohnmacht, Hilflosigkeit und Angst überwinden und den Verschwörern mittelfristig das Handwerk legen.
• Eine Verschwörungstheorie steigert das Selbstwertgefühl. Wer zu der kleinen Schar der Wissenden gehört, kann sich als Teil einer geistigen Elite verstehen.
• Eine Verschwörungstheorie vermag für jedes Übel und für jedes Missgeschick sowohl Gründe wie auch Schuldige zu benennen und damit zu entlasten und abzulenken.
Wie verbreiten sich Verschwörungstheorien?
• Soziale Medien erleichtern die Verbreitung und bieten die Möglichkeit der Vernetzung ihrer Anhänger.
• Eine wachsende technische Perfektion macht es möglich, Illusionen zu erzeugen und die Grenzen zwischen Realität und Fiktion aufzuweichen bzw. verschwinden zu lassen.
Lassen sich Verschwörungstheorien widerlegen?
• Grundsätzlich ist nur die Existenz von Dingen beweisbar, nicht aber die Nichtexistenz. Deshalb ist es nicht immer einfach, Verschwörungserzählungen zu beurteilen und zu sagen: Eine solche Verschwörung gibt es nicht.
• Machen wir uns diesen Sachverhalt an einem Beispiel deutlich: Es lässt sich wissenschaftlich nicht endgültig beweisen, dass es kein geflügeltes, weisses Einhorn gibt. Die Annahme der Nichtexistenz ist lediglich sehr wahrscheinlich, weil es weder Sichtungen noch Knochenfunde gibt. Insofern können wir derzeit vernünftigerweise davon ausgehen, dass es sich bei Einhörnern um Fabelwesen handelt. Aber: Vielleicht sind diese Tiere nur unglaublich scheu oder extrem selten und deshalb noch nicht gefunden. Die Nichtexistenz-Aussage ist deshalb immer nur eine Wahrscheinlichkeitsaussage, die sich auf bisher vorliegende Beobachtungen stützt. Hingegen könnte das erwiesene Auftreten eines einzigen Einhorns den endgültigen Existenzbeweis sofort erbringen.
• Es gilt also: Ob eine Verschwörung existiert, lässt sich nur beweisen, wenn sie aufgedeckt wird. Dass sie nicht existiert, bleibt immer eine Wahrscheinlichkeitsaussage. Deshalb kann jede Verschwörungstheorie, auch die absurdeste, nur als «sehr wahrscheinlich unzutreffend» bezeichnet, aber kaum grundsätzlich widerlegt werden.
Wie ist mit Verschwörungstheorien umzugehen?
• Verschwörungserzählungen machen sich, wie oben gezeigt, die Tatsache zunutze, dass es nahezu unmöglich ist, ihre Nichtexistenz zu beweisen. Wenn aber eine Verschwörung nicht mit Sicherheit ausgeschlossen werden kann, bedeutet dies im Umkehrschluss nicht, dass sie deshalb wahrscheinlich ist.
• Clevere Verschwörungstheorien mischen Wahrheit und Phantasie beziehungsweise tatsächliche Probleme mit (masslosen) Übertreibungen. Deshalb ist es hilfreich, die Elemente der Verschwörungstheorie zu trennen, einzeln zu analysieren und auf ihre Wahrscheinlichkeit hin zu überprüfen. Dabei gilt: Wenn ein Element zutrifft, muss das Gesamtkonstrukt nicht zwingend richtig sein.
• Echte Verschwörungen, zum Beispiel die Ermordung Cäsars, sind immer begrenzt, und zwar sowohl personell als auch räumlich und zeitlich. Denn mit einer wachsenden Zahl an Mitwissern steigt die Wahrscheinlichkeit ihrer Aufdeckung. Das bedeutet: Verschwörungserzählungen, die eine grosse Anzahl an beteiligten Personen voraussetzen, sich über einen langen Zeitraum, grosse geographische Bereiche oder verschiedene politische Systeme erstrecken sollen, sind in hohem Masse unwahrscheinlich.
Wie sind Verschwörungstheorien zu bewerten?
• In früheren Zeiten bezog sich die Zuschreibung, Verschwörungen anzuzetteln, auf Minderheiten, in besonderer Weise auf Juden, zum Teil auch auf andere Randgruppen. In der Gegenwart hingegen gelten eher gesellschaftliche Eliten und Verantwortungsträger als Urheber von Verschwörungen. Das Ergebnis freilich ist dasselbe: Diejenigen, denen unterstellt wird, für eine Verschwörung verantwortlich zu sein, verlieren ihre Menschlichkeit. Sie gelten als gerissen, machtgierig und mitleidlos; sie allein, so die Zuschreibung, sind schuld an allen Übeln der Welt. Verschwörungsgeschichten konstruieren Feindbilder und berauben Menschen ihrer Würde.
• Verschwörungserzählungen vermischen Wahrheit und Lüge. Damit verstossen sie gegen den Grundsatz der Wahrhaftigkeit und gefährden oder zerstören das Miteinander. Sie treiben die gesellschaftliche Spaltung voran und behindern die Suche nach einvernehmlichen Lösungen. So bedrohen sie die Demokratie und sind Wegbereiter für totalitäre Herrschaftsformen.
Wie ist mit Anhängern von Verschwörungstheorien umzugehen?
• Ich mache mich nicht lustig, sondern nehme mein Gegenüber ernst und versuche, Ängste oder Befürchtungen, Wut oder Verzweiflung zu verstehen.
• Ich stelle sachliche Fragen: Woher stammt die Information? Wer verbreitet sie? Gibt es andere Darstellungen oder Erklärungen desselben Sachverhaltes? Wer hat welche Interessen?
BRUNO BADER