«Ich nehme grundsätzlich alle Kinder an!»

  19.07.2022 Porträt

Durch die (Lebens-)Schule von Karin Ast ist schon so manches Kind gegangen. Je bunter und vielschichtiger zusammengesetzt die Klasse ist, desto wohler fühlt sich die Pädagogin.

SONJA WOLF
Mittwochmorgen, 8.15 Uhr. Fast ein wenig ehrfürchtig betrete ich das Schönrieder Schulhaus. Alles ist still, leer und abgedunkelt – natürlich, es sind Sommerferien. Bis die angenehme Stimme von Karin Ast die Stille durchbricht. Fröhlich und energievoll begrüsst sie mich und führt mich in ihr Reich: das Klassenzimmer 4/5/6b.

«Die habe ich selbst gebastelt», erklärt sie mir, als sie meinen neugierigen Blick auf die bunten Schmetterlinge gerichtet sieht, die von der Zimmerdecke baumeln. Es ist nicht zu übersehen: Karin Ast ist mit übersprudelnder Freude und Engagement bei der Sache. Überall an den Wänden hängen farbenfrohe Schülerzeichnungen, Klassenfotos und zahlreiche kindgerechte Merktafeln für Grammatik oder mathematische Regeln.

Ich möchte direkt wissen, wie die letzte Alltagsheldin, Nadia Burri, wohl darauf kam, Karin Ast zu nominieren? Für die Antwort muss die Lehrerin mehr als ein Jahrzehnt in die Vergangenheit zurückgehen: Die damals neunjährige Nadia und ihre Mutter waren sich nicht sicher, ob Nadia zu Karin Ast in die Regelklasse kommen könne, da die Schülerin auf den Rollstuhl angewiesen war. Die Antwort der Lehrerin kam spontan: «Ja sicher, ich nehme grundsätzlich alle Kinder an!» Was man als Maxime getrost über ihr gesamtes pädagogisches Handeln stellen kann...

Nadia hat sie nicht nur Schritt für Schritt feinfühlig in die Klasse integriert, sondern auch die nächste Theateraufführung speziell auf sie abgestimmt. «Ich habe ‹Heidi› als Stück gewählt, denn so konnte Nadia die gelähmte Clara Sesemann spielen, die im Rollstuhl sitzt, aber mit Heidis und Peters Hilfe ein wenig gehen lernt.» Fasziniert blättere ich im Drehbuch, das sie komplett per Hand geschrieben hat und ihren kleinen Schauspielerinnen und Schauspielern in Form von ausgeschnittenen Dialogkarten näherbrachte.

«Als nächstes Theaterstück habe ich übrigens ‹Robin Hood› ausgewählt, aber auf Englisch, um die beiden Grossen aus der 6. Klasse zu fordern und zu fördern», verrät sie mir mit einem verschmitzten Lächeln.

Massgeschneiderte Programme hat die Lehrerin, selbst Mutter dreier Kinder, nicht nur bei ihren Theateradaptationen auf Lager. Denn die Voraussetzungen in einer kleinen Bäuertschule sind speziell: Bei drei Jahrgängen in einem Klassenraum müssen natürlich drei verschiedene Lehrpläne parallel unterrichtet werden. Sie muss die Schüler so anleiten und motivieren, dass sie relativ selbstständig an ihrem Wochenprogramm weiterarbeiten.

«Nicht schlecht», staune ich und könnte noch Stunden ihren Geschichten lauschen aus ihrer über 30-jähriger Berufserfahrung. Denn ausser den Mehrfachjahrgängen hatte sie im Klassenzimmer regelmässig auch Hochbegabte oder Kinder mit Lernschwierigkeiten, Kinder mit ADHS, Autismus oder körperlicher Beeinträchtigung, Kinder von Einheimischen und Ausländern – und in der letzten Zeit auch zwei Kinder aus der kriegsgebeutelten Ukraine. Über alle hat sie eine liebevolle Geschichte parat und für jedes Einzelne eine Menge pädagogische Tricks zur ganz speziellen, individuellen Förderung.

Einmal absolvierte sie ein Praktikum in Bern. Mit ihrer Meinung über die komplett homogene Grossstadtklasse hält sie nicht hinterm Berg: «Dort waren alle Kinder so gleich vom Alter und Niveau. Man fängt automatisch an, sie zu vergleichen und das möchte ich nicht!» Hier auf dem Land dagegen liebt sie gerade die Herausforderung, dass jedes Kind so unterschiedlich ist. «Ich sehe jedes Kind als Individuum und hole es genau dort ab, wo es ist.» Deshalb schätzt sie es auch sehr, dass sie die Kinder drei Jahre lang begleiten darf und genau weiss, wie jeder einzelne Rucksack noch weiter angefüllt werden muss.

Hat so eine Lehrerin, die aus tiefster Berufung unterrichtet, überhaupt andere Hobbys? Sie selbst kommt vom Bauernhof und hat als junge Frau einen landwirtschaftlichen Betrieb mit ihrer Familie geführt: «Und heute bin ich in meiner Freizeit auf dem Landwirtschaftsbetrieb vom Bruder meines Lebenspartners immer noch am Heuen, Käsen und Kühezügeln!», lacht sie. Ausflüge in die Berge macht sie auch gerne. «Manchmal besuche ich auf meinen Bergwanderungen Schüler, die mit ihren Eltern den Sommer auf der Alp verbringen und mitanpacken.»

Sie liebt diese Bodenständigkeit vieler Kinder auf dem Land. Dass sie in der Landwirtschaft mithelfen, dass sie ihre Hände zu gebrauchen wissen. «Ich gehe gerne auch bei Schulausflügen in die Berge und veranstalte auch mal ein Steineräumen oder Schwenten mit meiner Klasse.»

Auch empfiehlt sie ihren Schülern schon in der 5. und 6. Klasse, sich nach einem Wochenplatz umzuschauen, um einen Einblick in die Berufswelt zu bekommen. Bei einem Bäcker auszuhelfen oder dem Automechaniker beim Reifenwechsel zuzuschauen, findet sie extrem wichtig. «Vielleicht empfinden mich die Kinder manchmal als streng, gerade, weil ich auch sehr auf ein höfliches, respektvolles Miteinander poche, aber wenn sie es dann als Erwachsene beruflich geschafft haben und im eigenen Auto an der Schule vorbeifahren, hupen oder sogar auf einen Schwatz bei mir vorbeikommen, weiss ich, dass ich ihren Lebensrucksack scheinbar richtig angefüllt habe – und das freut mich sehr!»

Wir stellen Ihnen Menschen vor, die jenseits der Schlagzeilen die Geschichte des Saanenlandes mitschreiben. Leute, die im Hintergrund Fäden spannen, ihr Umfeld mit ihrer Art bereichern oder ganz einfach anders sind. Die Serie rollt wie ein Schneeball durch die Region, denn die Porträtierten wählen jeweils selbst einen/eine Nachfolger/in. Auf Wunsch von Karin Ast besuchen wir als Nächstes Franziska Neuhaus.


ZUR PERSON

Karin Ast kommt aus Spins bei Aarberg im Seeland und kam bereits 1990 an die damalige Schule in Saanenmöser, um ihren pädagogischen Landeinsatz abzuleisten. 1991 folgte die Festanstellung als Lehrerin. Seit der Schliessung des Schulhauses in Saanenmöser 2012 unterrichtet Karin Ast in Schönried. Die 52-Jährige hat drei Kinder. Sie wohnt aktuell in Schwenden im Diemtigtal mit ihrem Lebenspartner Urs Regez.

SONJA WOLF

 


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