Fastenzeit – ein alternativer Kreuzweg

  01.03.2022 Leserbeitrag

Da wir uns gerade in der Fastenzeit befinden, greife ich in dieser Bolivienspalte noch einmal die Tradition des Kreuzwegs in Bolivien auf. In diesem Zusammenhang habe ich bereits letztes Jahr von dem Jungen Nelson Jimenez erzählt, der kaum zehn Jahre alt wurde, weil sein eigener Vater den hungrigen Sohn totprügelte. Der Grund: Er hatte im Nachbarsgarten einen Apfel gestohlen.

Um nicht jedes Jahr denselben Kreuzweg aufführen zu müssen und Brücken zur Gegenwart zu schlagen, haben wir uns anlässlich dieses Geschehnisses zu einem alternativen Kreuzweg entschlossen. In «Der König der Apfeldiebe oder Tod eines bolivianischen Kindes» wird die Kreuzigungsgeschichte durch eine Chronik des Leidens der Kinder unserer Zeit dargestellt. Sie erzählt in 15 Stationen den Leidensweg eines Jungen, der als Anführer einer Bande von Apfeldieben ins Erziehungsheim geschickt wird. Jesus und seine Anhänger, auch die mit ihm zusammen gekreuzigten Räuber, werden als Strassenkinder oder als durch Arbeit ausgebeutete Kinder dargestellt. So ist der eine Räuber ein Kind, das gnadenlos als Dienstmädchen ausgenutzt wird, wie es vielfach in Bolivien der Fall ist, und dem vorgeworfen wird, die Juwelen der Herrin gestohlen zu haben. Der andere Räuber wird in diesem Fall von einem Jungen dargestellt, der in den Minen arbeitet und der einzig aufgrund seines Aussehens, nämlich des eines Terroristen, verurteilt wird. In den Zinn- und Silberminen Boliviens werden bis heute Kinder beschäftigt, um die herausgebrochenen Mineralien durch die engen und niedrigen Stollen ins Freie zu schleppen. Auch nach 16 Jahren sozialistischer Regierung hat man es nicht geschafft, solchen Missbrauch einzudämmen, ebenso wenig wie die Tatsache, dass Mädchen vom Land bereits in frühestem Kindesalter in städtischen Haushalten, oft nur gegen einen Teller Essen als Lohn, arbeiten müssen. In «Der König der Apfeldiebe» werden den Verurteilten Gegenstände, die die Kinderarbeit symbolisieren – wie eine Schuhputzkiste, ein Ziegel, ein Staubwedel oder ein Bündel Zeitungen –, an die entsprechenden Kreuze gehängt, bis sie zusammenbrechen.

Die Hohenpriester, die Pharisäer und das Volk, die auf den Tod von Jesus drängen, werden in unserem alternativen Kreuzweg als kurzsichtige, engstirnige und intolerante Erwachsene dargestellt: ein Arzt, eine Hausfrau, ein Anwalt, eine Sekretärin, ein Lehrer und sogar ein Psychologe. «Wie heisst es in der Bibel?», rufen sie im Chor. «Wenn du die Rute schonst, verdirbst du das Kind! Wer Zucht liebt, wird klug! Ohne Prügel keine Moral!»

Es bleibt jedoch nicht allein bei diesen Worten. Immerhin werden in Bolivien, wie ich bereits an anderer Stelle erwähnte, acht von zehn Kindern regelmässig körperlich misshandelt, von zehn Frauen sieben von ihren Ehemännern geschlagen. So wird in diesem Kreuzweg die Passionsgeschichte Jesu durch die Leidensgeschichte der bolivianischen Kinder erzählt. Wie etwa, wenn den Strassenkindern von den Polizisten das wenige Geld, das sie erbettelt oder verdient haben, abgenommen wird. «Mal sehen, wie viel du hast. Gib her, bestimmt hast du das gestohlen!», hört man den Polizisten sagen. Die Station, in der das geschieht, trägt die Überschrift: «Jesus wird seiner Kleider beraubt.»

In einer anderen Szene mit dem Titel «Jesus begegnet den weinenden Frauen» klagt eine Gruppe von Cholas – typischen Indiofrauen – ihr Leid, wie es ist, wenn man ein Kind verliert. «Mein Sohn war vier, als er an Durchfall starb», sagt die Erste. «Den meinen hat sein Vater, ein haltloser Säufer, totgeschlagen», fügt eine andere hinzu. «Meinen hat die Drogenpolizei abgeholt. Er ist nie zurückgekommen», schluchzt die Letzte.

Die Station «Jesus wird ans Kreuz genagelt» prangert die Lynchjustiz an, die in Bolivien so weit verbreitet ist und der vor allem Jugendliche zum Opfer fallen. In mehreren Vierteln von Quillacollo steht auf Häuserwänden in Grossbuchstaben und sogar an der Wand einer Schule: «Drogensüchtige und Diebe werden lebendig verbrannt.» Auch in diesem Fall bleibt es nicht nur bei Worten. Oft trifft es Unschuldige, die zur falschen Zeit am falschen Ort sind. Einer der Hauptgründe für die Lynchjustiz ist, dass korrupte Polizisten und Richter viele verhaftete Kriminelle gegen ein Schmiergeld einfach wieder freilassen. Der als Strassentheater und Prozession konzipierte Kreuzweg wird musikalisch mit eigens dafür geschriebenen Liedern und Gebeten begleitet. Eines dieser Lieder gegen Ende der Aufführung lautet:

«Als der Säugling starb an Erkältung einwandfrei, zerriss die Trikolor jäh entzwei dabei.

Als das Mädchen starb an einfachem Durchfall, tat sich die Erde auf mit einem grosen Knall.

Als der Knabe starb nach des Vaters Saufgelag, erblassten Sonne und
Mond auf einen Schlag.

Als die Kindheit starb, rührte sich gar der Pol in seiner starren Haut – den Menschen aber wars egal.»

Im Gebet, das der Pfarrer im Anschluss spricht, heisst es: «Herr, vergib uns, denn während wir diese unschuldigen Kinder begraben, begraben wir die Zukunft unseres Landes und die Zukunft der ganzen Welt.»

Jesus wird zwar während der ganzen Aufführung – ausser in den Titeln – nicht erwähnt, aber die Stationen sind vergleichbar mit denen, die er auf seinem Weg nach Golgota zurücklegte. Um einen solchen Kreuzweg in der Kirchengemeinde aufführen zu können, ist man auf einen besonders toleranten Pfarrer angewiesen, den wir in der Person unseres Pfarrers Eulogio del Prado gefunden haben, wofür wir ihm immer herzlich dankbar sein werden.

STEFAN GURTNER

Stefan Gurtner ist im Saanenland aufgewachsen und lebt seit 1987 in Bolivien in Südamerika, wo er mit Strassenkindern arbeitet. In loser Folge schreibt er im «Anzeiger von Saanen» über das Leben mit den Jugendlichen. Wer mehr über seine Arbeit erfahren oder diese finanziell unterstützen möchte, kann sich beim Verein Tres Soles, Walter Köhli, Seeblickstrasse 29, 9037 Speicherschwendi, E-Mail: walterkoehli@ bluewin.ch erkundigen. Spenden: Tres Soles, 1660 Château-d’Oex, Kto.-Nr. 17-16727-4. www.tres-soles.de


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