Eine besondere Erfolgsgeschichte
08.02.2022 LeserbeitragAus aktuellem Anlass möchte ich in dieser Bolvienspalte auf Omar Callisaya, einen ehemaligen Solesianer, eingehen. Omar war seit seiner frühen Kindheit bis zum Abschluss seiner Ausbildung ein Mitglied von Tres Soles. Der damals Achtjährige kam 1994 zusammen mit seinem zwei Jahre älteren Bruder Edgar zu Tres Soles. Die beiden waren die Jüngsten von sechs Geschwistern, die ein Jahr nach Omars Geburt ihre Mutter verloren hatten.
Omar hatte ein ausgesprochen bildhaftes Vorstellungsvermögen, wie ich sehr schnell feststellen konnte. Er und sein Bruder nahmen von Anfang an an unserer Theatergruppe Ojo Morado teil. Omar war sehr diszipliniert und sein grösster Wunsch war, Schauspieler zu werden. Edgar dagegen war weniger interessiert und gab das Theaterspiel bald auf. Er arbeitet heute als Anstreicher. Omar hingegen hat während der immerhin 17 Jahre, die er in Tres Soles lebte (bis zum Abschluss seiner Ausbildung an der Theaterschule in Santa Cruz), kein einziges der Theaterstücke, die Ojo Morado produziert hat, ausgelassen. Unvergesslich bleiben mir die Rollen, die er als Neun- beziehungsweise als Elfjähriger im «Kleinen Prinzen» und im «Kinderkreuzzug» gespielt hat.
Im Stadttheater von La Paz setzt er sich in der Inszenierung unseres Stücks «Der kleine Prinz» in seiner Rolle als Huhn gegen die Bedrohung eines Fuchses eindrucksvoll mit Eiern zur Wehr und verfährt ebenso mit dem ehrwürdigen Publikum, das in dem Moment stellvertretend für die gewaltbereite Gesellschaft steht. Im «Kinderkreuzzug» von Brecht spielt er sehr überzeugend den kleinen Clown, der die anderen Kinder aus der Gewalt ihrer Eltern befreit, die einen unerbittlichen Krieg gegeneinander führen.
Durch den Erfolg, den wir besonders mit diesen beiden letztgenannten Stücken hatten, lernte Omar gemeinsam mit seinen Mitspielern ganz Bolivien, die Nachbarländer Chile und Argentinien und schliesslich sogar Deutschland und auch die Schweiz kennen. Möglicherweise erinnert sich der eine oder andere Leser noch daran. Omar hat hart an seinen Zielen gearbeitet: zunächst um das Abitur zu erlangen, um dann die lang ersehnte Schauspielausbildung an der neu gegründeten Theaterfachschule in Santa Cruz antreten zu können. Er ist heute Theaterlehrer und ein erfolgreicher Schauspieler in einer internationalen Theatergruppe.
Auf dem Hamburger Festival 2020 war Omar in dem Kriegsdrama «Chaco» in der Rolle des Soldaten Ticona unter der Regie von Diego Mondaca zu sehen: Bolivien und Paraguay befinden sich im Krieg. Eine Armee im unwirtlichen Grenzgebiet sucht nach dem Feind – und findet in sich den grössten Gegner.
Der Film spielt in der Chaco-Ebene im Jahr 1934. Eine Gruppe bolivianischer indigener Soldaten, u.a. Liborio und Ticona (Omar Callisaya), wird vom ruppigen deutschen Kommandanten Hans Kundt angeführt. Der Europäer weigert sich zu akzeptieren, dass ihre Mission längst sinnlos geworden ist. Mit jedem Tag, jedem aufreibenden Marsch und hastig errichteten Lager wachsen Hunger, Isolation und Verzweiflung. Wie Schatten irren Kundt und seine Männer durch die Hölle des Chaco, eine mörderische Welt aus Staub und Stille. Der Film wurde als bolivianischer Beitrag für den besten internationalen Spielfilm bei den 93. Academy Awards ausgewählt wie auch für die Oscars 2021, aber nicht nominiert.
Ebenfalls im Frühjahr 2020 war Omar mit einer internationalen Theatergruppe in der Theaterproduktion «Palmasola» zu sehen. Nach der Vorpremiere in 2019 bei der Theaterbiennale in Santa Cruz starteten die Premierenvorstellungen im Oktober 2019 in Deutschland und in der Schweiz. Es folgte eine Einladung zum Schweizer Theatertreffen im Mai 2020 nach Chur, das ebenso wie die nachfolgenden Veranstaltungen in Bern wie auch in Deutschland wegen der Pandemie abgesagt werden musste. Nun ist Omar erneut nach der erfolgreichen Premiere in 2019/2020 mit dieser Theaterproduktion in Deutschland zu sehen (Januar, Kammerspiele München, Februar, Theater Ballhaus Ost, Berlin).
Der Film «Palmasola» handelt von dem gleichnamigen Gefängnis in Santa Cruz, das, wie in einigen Kommentaren zu lesen ist, «in der Rangliste der härtesten Knäste der Welt seit Jahren zuverlässig den Spitzenplatz einnimmt».
Die Produktion wurde intensiv sowohl in der bolivianischen Presse als auch von den bei der Premiere in Santa Cruz angereisten Journalisten der deutschsprachigen Fachzeitschriften «Theater der Zeit» und «Theater Heute» besprochen. Er erzählt u.a. von den Überlebensstrategien, Träumen und Albträumen der Häftlinge und untersucht die Gesetzmässigkeiten dieses «Staates im Staat». Was sind Recht und Gerechtigkeit? Wie nehmen Kinder, die in diesem Gefängnis aufwachsen, die Welt wahr?
Palmasola, die Gefangenenstadt in Santa Cruz, entstand Ende der Achtzigerjahre. Der bolivianische Staat stellt keine Zellen zur Verfügung, sondern die Insassen müssen sich ihre Unterkünfte mieten, kaufen, bauen, unter Umständen auch erkämpfen. Sie wird von etwa 6400 Männern und Frauen bewohnt. Viele warten seit Jahren vergeblich auf ein Gerichtsverfahren, doch ohne Geld gibt es auch kein Recht.
STEFAN GURTNER
Stefan Gurtner ist im Saanenland aufgewachsen und lebt seit 1987 in Bolivien in Südamerika, wo er mit Strassenkindern arbeitet. In loser Folge schreibt er im «Anzeiger von Saanen» über das Leben mit den Jugendlichen. Wer mehr über seine Arbeit erfahren oder diese finanziell unterstützen möchte, kann sich beim Verein Tres Soles, Walter Köhli, Seeblickstrasse 29, 9037 Speicherschwendi, E-Mail: walterkoehli@ bluewin.ch erkundigen. Spenden: Tres Soles, 1660 Château-d’Oex, Kto.-Nr. 17-16727-4. www.tres-soles.de