Im Saanenland aufgewachsen und jetzt …
18.01.2022 SerieDas Saanenland war und ist geprägt von Zu- und Wegzügen. Die Leserinnen und Leser des «Anzeigers von Saanen» sind nicht nur im Saanenland zu finden, sondern in der Schweiz und im Ausland – ja, in der ganzen Welt. Diese «Auswanderer» will «Im Saanenland aufgewachsen und jetzt …» vorstellen.
Wer mit dem Zug in Basel SBB ankommt und von der Überführung in die Bahnhofhalle schaut, erblickt die Wispile an der gegenüberliegenden Wand. Das Bild ist mit «Gstaad» angeschrieben und nur Eingeweihte wissen, dass der gemalte Berg die Wispile ist. Ein solcher Eingeweihter ist auch Reto Reichenbach, der dieses Stückchen Saanenland immer wieder gerne entdeckt, wenn er nach Basel heimkehrt. Das Bild erinnert ihn an die Postkartenaussicht aus dem Turbach mit Giferhorn, Wasserngrat, den Silhouetten von Gummfluh und Rüblihorn und er dankt dem göttlichen Landschaftsarchitekten für so viel Schönheit.
Die Verbindungen von Basel mit dem Saanenland sind zahlreich und vielfältig. Viele Leute aus Basel haben eine Zweitwohnung im Berner Oberland und die Region ist für sie zur zweiten Heimat geworden, so wie Reto Reichenbach in Basel seine zweite Heimat fand. Vor 18 Jahren begann der Turbacher als Klavierlehrer an der Musikschule Riehen zu unterrichten. 14 Jahre lang, bis zu einem Umzug vor vier Jahren, hat er einen Stein aufbewahrt, den ihm ein Basler zum Stellenantritt aus dem Turbachbach mitgebracht hatte. Reto Reichenbach unterrichtet Kinder, Jugendliche, junge und ältere Erwachsene. Seine ältesten Schüler zählen gegen 80 Jahre. Seine Arbeit gefällt ihm gut, sie ist für ihn sehr positiv. Er sieht die Schülerinnen und Schüler als Persönlichkeiten, auf die er für die Dauer einer Lektion eins zu eins eingehen kann – im Tandem. Er könne so Beziehungen entwickeln und fördern, die Schülerinnen und Schüler würden sich öffnen und auch wenn es hauptsächlich um die Musik gehe, sehe er immer wieder, dass sie sich breit entwickeln und entfalten.
Unterrichten und auftreten
Harzt es bei der Entwicklung, dann kann Reto Reichenbach auch Frustration erleben. Diese ist für ihn eine Herausforderung, auch bei Nicht-Mozarts ein musikalisches Wachstum zu erwecken und zu fördern. Die Frage nach einer Karriere ausschliesslich als Konzertpianist ist rasch beantwortet: Die Mischung von drei Tagen Musikschule und dem Musikmachen für Konzerte an den anderen Tagen der Woche ist für Reto Reichenbach ideal. Die beiden Tätigkeiten ergänzen sich bestens und lassen sich zeitlich koordinieren. Er tritt meistens an Wochenenden auf und kann seine Zeit gut planen und sogar Freiräume darin integrieren. Bis Ende 2021 gab es viele Projekte. Fehlen diese, dann bleibt ihm mehr Zeit zum Üben.
Üben und sich daran freuen
Für Reto Reichenbach ist Üben etwas Schönes, das ihn inspiriert und ihm Kraft gibt. Die Stücke wählt er nach seinen persönlichen Vorlieben aus. Trotzdem gibt er zu, dass Üben Arbeit bedeutet, dass neue Stücke erarbeitet sein wollen. Während des Lockdowns hatte er dazu viel Zeit, die er gerne nutzte. Eines seiner Wunschstücke, die letzte Schubert-Sonate, hat er während der Pandemie eingeübt und wartet nun auf eine Gelegenheit, dieses Werk aufzuführen. Begeistert ist er auch von der Klaviersonate in h-moll von Chopin – einem grossartigen Werk, wie Reto Reichenbach versichert. Damit verbinde er auch eine Kindheitserinnerung, denn diese Musik von Chopin sei eine der ersten Langspielplatten gewesen, die er auf dem Plattenspieler im Turbach gehört habe.
Chopin hören
Damals sei er 13 Jahre alt gewesen und der Plattenspieler sei in der Stube des Hauses im Inneren Turbach gestanden. Die LP mit der Chopin-Sonate habe er unzählige Male abgespielt: «Für mich war Chopin damals der Inbegriff von Klaviermusik», sagt Reto Reichenbach. Schon als Zehnjähriger sei er Klavierschüler geworden: «Die Musik Chopins vermittelte mir eine Emotionalität, die mich als Jugendlichen ansprach. Bei Bach und Mozart geschah dies erst deutlich später. Das Leben im Bauernhaus spielte sich in der Küche ab. Ich konnte alleine in der Stube in aller Ruhe Musik hören und war unfassbar beeindruckt und überwältigt. Wie war eine solch wuchtige Musik, eine solche Virtuosität und Emotionalität möglich?
Berndeutsch sprechen
Das Klavier, an dem Reto Reichenbach spielte, stand auch in der Stube. Die Schule, durch die er mit Leichtigkeit segelte, und die Mitarbeit im Landwirtschaftsbetrieb liessen ihm viel freie Zeit. Dazu unterstützte die Familie seinen Weg zum Musiker, auch wenn es bei der Berufswahl doch einige Vorbehalte gab, ob es klug sei, gleich nach der obligatorischen Schulzeit so einen «brotlosen» Beruf zu erlernen. Das Turbach-Heimet ist auch in Basel immer noch präsent. Es ist im Vordergrund eines Gemäldes von Sigi Amstutz zu sehen, im Hintergrund ragt das Wistätthorn in den Himmel. Hörbar auch, dass Reto Reichenbach aus dem Kanton Bern kommt und sprachlich weit weg vom Baseldeutsch angesiedelt ist, auch wenn sich das Saanendeutsch im Basler Umfeld etwas verflüchtigt hat und meist erst im Kontakt mit Saanern wieder zurückkehrt. Gewisse saanendeutsche Worte wie «ging wieder» und «bi üns» sagt er allerdings sogar während des Unterrichts, manchmal zur Belustigung seiner Schüler.
Mit den Fellen aufsteigen
Weil ihm die Berge manchmal fehlen, jubiliert sein Herz, wenn er nach Süden fährt und die Berner Hochalpen mit Eiger, Mönch und Jungfrau in der Ferne auftauchen oder sich nach Saanenmöser das Saanenland seinem Blick öffnet: «Ich gehe heim ins Saanenland, komme aber auch wieder heim nach Basel. Emotional bin ich tief mit dem Saanenland und seiner Landschaft verbunden geblieben. Dies auch durch meine Hochgebirgs- und Skitouren. Es warten noch viele Gipfel auf mich: Oldenhorn, Spitzhorn, die Gastlosen, die Staldenflüe und viele mehr. Im Winter geniesse ich es, von der Haustüre mit den Fellen zum Berzgummer Steinmannli aufzusteigen.»
Mit Spass aussuchen
Reto Reichenbach war seine ganze Schulzeit im Turbach, ging nie in Gstaad zur Schule. Er wuchs ausserhalb der Masse, in einer Freikirche auf und hatte dort auch seinen Konfirmandenunterricht, was seine Berührungspunkte mit den Talsaanern einschränkte. Bekannt wurde er im Saanenland durch die Musikschulkonzerte und sein erstes Konzert für den Musiksommer in der Kirche Lauenen, an das sich der Schreiber dieser Zeilen gut erinnern kann. Reto Reichenbach weiss um die Leute im Saanenland, die ihm eine Weltkarriere als Musiker voraussagten. «Eine solche Karriere ist nicht nur lustig», sagt er. «Du schläfst in vielen Hotelzimmern, musst dauernd reisen. Dazu fehlte mir der Wille, vielleicht auch die nötige Durchsetzungskraft. Hier in Basel kann ich spielen und aussuchen, was mir Freude macht.»
Spirituell sein
Er ist viel lieber an einem Ort und im täglichen Leben verankert. Als gläubiger Christ bedeutet es ihm viel, in einer Kirche dabei zu sein. Es ist in Basel für Reto Reichenbach die Landeskirche, in der er sich auch einsetzt als Klavierspieler bei Gottesdiensten oder bei einem Weihnachtsmusical. Er geniesst dort die Gemeinschaft: zum Beispiel ein Lager an Auffahrt oder eine gemeinsame Ferienwoche. In der Quartierkirche Gellert hat er so etwas wie eine geistliche Familie gefunden. Spiritualität und Inspiration findet er auch in der Musik: «Zum Beispiel bei Mozart und Schubert. Aber der grösste Komponist ist und bleibt Bach.» Wo Reto Reichenbach recht hat, da hat er recht.
THOMAS RAAFLAUB