Eine bolivianische Weihnachtsgeschichte
04.01.2022 LeserbeitragObwohl die einfachen Menschen in Bolivien sicher nicht viel von der Befreiungstheologie gehört haben, ist die nachfolgende Weihnachtsgeschichte genau von der Idee inspiriert, dass sich Jesus vor allem gegenüber den Armen verpflichtet gefühlt hat; eine traditionelle Geschichte, die es in verschiedenen Versionen gibt. Unsere Theatergruppe hat sie einmal zu einem Krippenspiel umgearbeitet und zur Mitternachtsmesse in der Kirche von Quillacollo aufgeführt. Besagter Panettone, der hierbei eine wichtige Rolle spielt, ist in Bolivien das Weihnachtsgebäck so wie in der Schweiz etwa der Weihnachtszopf oder der Lebkuchen.
Am späten Nachmittag des 24. Dezember dämmerte es bereits und José betrachtete niedergeschlagen die Menschen auf dem Weihnachtsmarkt, die im letzten Moment Geschenke kauften. Schliesslich nahm er allen Mut zusammen und näherte sich einem Stand, an dem Panettones aller Arten verkauft wurden, in bunte Kartons verpackt, kunstvoll zu einer Pyramide aufgebaut. José fragte die Verkäuferin, ob er ihr helfen könne. Die Frau bediente den nächsten Kunden, ohne zu antworten. Als dieser gegangen war, sagte José laut und deutlich: «Den ganzen Tag habe ich Arbeit gesucht, aber keine gefunden. Ich habe nicht einmal das Geld für den Bus, um nach Hause zu kommen.»
«Wenn du willst, kannst du die Kisten dort vom Lieferwagen abladen», sagte die Frau und wandte sich dem nächsten Kunden zu. Don José tat, wie ihm geheissen wurde. Nachdem er fertig war, bat er die Frau um ein kleines Trinkgeld.
«Ich habe kein Kleingeld», fertigte sie ihn kaltschnäuzig ab und reichte einer Dame mit ihrem Pudel im Schlepptau einen Panettone. Auf der Packung war der angeschnittene Kuchen mit den bunten kandierten Früchten und schwarz glänzenden Rosinen zu sehen.
«Ich habe drei Kinder, die heute noch nichts gegessen haben. Sie können mir auch einen von diesen Panettoni oder ein paar Kekse geben.»
«Verschwinde oder ich hole die Polizei!» Don José stapfte mit gesenktem Kopf davon. Als er weit genug entfernt war, zog er seine Jacke aus und bot sie den vorbeieilenden Menschen für ein paar Pesos an.
«Ich brauche keine Jacke», sagte ein Mann, der schwitzend zwei grosse Taschen voller Spielzeug davonschleppte. Eine Frau, an einen kleinen Weihnachtsbaum aus Plastik geklammert, fauchte: «Hör auf, mich zu belästigen! Ich warte auf meinen Mann.»
Ein Jugendlicher stiess ihn grob zur Seite und bemerkte spöttisch, dass er zu Weihnachten bestimmt eine schönere, neue Jacke bekäme. Erschöpft setzte sich Don José auf die Stufen der Kirche, von wo aus man den Weihnachtsmarkt überblickte. Die Weihnachtsbeleuchtung über dem Eingang und am Kirchturm leuchtete und funkelte. Er betrachtete sie eine Weile und murmelte dann: « Herrgott im Himmel, warum muss ausgerechnet mir das alles passieren?»
«Redest du etwa mit mir?», fragte eine tiefe Stimme so urplötzlich, dass Don José zusammenzuckte. Einen Moment glaubte er, dass es die Stimme Gottes selbst war, aber dann stellte sich heraus, dass sie einem Bettler gehörte. Er hatte sich neben ihn auf die Stufen gesetzt und den vorbeieilenden Menschen seinen Hut entgegengestreckt.
«Ich verstehe nicht, warum ich meine Arbeit verloren habe und meinen Kindern nicht einmal einen Panettone nach Hause bringen kann.»
«Ich glaube nicht, dass Gott viel damit zu tun hat», brummte der Bettler in seinen langen, struppigen Bart.
«Warum ist denn Weihnachten nur für die da, die Geld haben?», redete sich Don José in Rage.
«Ich glaube nicht, dass Gott überhaupt existiert!», knurrte es neben ihm.
«Warum gibt es keine Weihnachten für die Armen?»
«Alles, was die Leute über Gott und die Weihnachten reden, ist eine Lüge. Gib mir besser ein Almosen, anstatt zu schwafeln.»
Don José starrte den Bettler mit weit aufgerissenen Augen an. «Du sollst mir ein Almosen geben, du Hohlkopf!»
«Aber ich habe doch selbst kein Geld!», rief Don José verzweifelt.
«Es stimmt wohl, dass Gott nicht existiert», seufzte er. «Ich gehe besser nach Hause.»
José wohnte in einem Armenviertel am Rande der Stadt. Es gab noch nicht einmal eine Strasse, die zu seiner Hütte führte, sondern nur eine steile Treppe, die notdürftig in den steilen Hang gebaut war. Hier gab es nur Hütten aus Lehmziegeln mit einem rostigen Wellblechdach. Als er endlich hundemüde und mit schmerzenden Füssen nach Hause kam, war es schon spät und stockdunkel, denn in Vierteln wie diesem gab es keine Strassenlampen. Und so sah er erst im letzten Moment, was sich vor seiner Hütte abspielte. Einen Moment glaubte er sogar, sich verlaufen zu haben, denn über der Tür hingen mehrere farbige Lichter und davor hatten sich fröhlich die Nachbarn versammelt. Erst als Josés Jüngste auf ihn zurannte, war er sicher, dass er sich nicht geirrt hatte.
«Papa, endlich bist du da!», rief das Mädchen und drückte ihn ganz fest. Hinter ihr erschienen seine beiden Söhne und seine Frau.
«Wo warst du so lange, José?», fragte sie sichtlich erleichtert. «Wir haben so lange auf dich gewartet!»
Einer der Nachbarn legte ihm die Hand auf die Schulter. «Wir wollten gerade mit deiner Frau und deinen Kindern zusammen Weihnachten feiern, weil sie allein waren. Schliesslich sind wir doch seit vielen Jahren Nachbarn...»
«Ach, weisst du, ich habe den ganzen Tag vergeblich Arbeit gesucht und bringe nicht einmal einen Panettone für meine Kinder nach Hause», seufzte Don José beschämt.
«Machen Sie sich keine Sorgen. Jetzt sind Sie da - das ist das Wichtigste», tröstete ihn eine andere Nachbarin.
«Doña Isabel hat recht, sei nicht mehr traurig, José. Wir wollen alle zusammen die Geburt des Jesuskindes feiern», sagte seine Frau. «Papa, wir haben eine kleine Weihnachtskrippe aufgebaut. Komm, wir zeigen sie dir!»
Die Kinder zogen ihn in die Hütte. Es war eine kleine Hütte mit zwei Zimmern; in dem einen befanden sich ein Kochherd, ein Tisch und paar Stühle, im anderen zwei Betten, in denen sie schliefen. Alles war ordentlich und sauber. Die Figuren der Krippe standen auf getrocknetem Gras, das auf einem Regal in der Küche ausgelegt war. Sie waren aus altem Karton gebastelt und angemalt. Die Kinder mussten seit Tagen daran gewerkelt haben und er hatte es nicht bemerkt. Schliesslich war er von früh bis spät unterwegs gewesen, um Arbeit zu suchen. Als er näher hinschaute, sah er anstelle des Jesuskindes in der Krippe einen köstlichen Panettone, der genau wie auf dem Marktstand aussah.
«Oh, schaut, ein Wunder!» rief das Mädchen und zeigte auf den Panettone. «Der war vorhin noch nicht da!»
Doña María umarmte ihren Mann und schluchzte: «Ich liebe dich, José!»
José war nicht fähig, ein einziges Wort zu sagen. In seinem Hals hatte sich ein grosser Kloss gebildet. Er jedenfalls hatte den Kuchen nicht in die Krippe gelegt. Jemand von den Nachbarn musste die Aufregung bei seiner Ankunft ausgenutzt und ihn hineingelegt haben. Von draussen ertönten Stimmen: «Don Jóse, Doña Maria, Kinder, wo bleibt ihr solange? So kommt doch raus, wir wollen endlich feiern!»
Und das taten sie. Bei einem wärmenden Feuer und Gitarrenklang sangen und tanzten sie alle miteinander bis spät in die Nacht hinein.
STEFAN GURTNER
Stefan Gurtner ist im Saanenland aufgewachsen und lebt seit 1987 in Bolivien in Südamerika, wo er mit Strassenkindern arbeitet. In loser Folge schreibt er im «Anzeiger von Saanen» über das Leben mit den Jugendlichen. Wer mehr über seine Arbeit erfahren oder diese finanziell unterstützen möchte, kann sich beim Verein Tres Soles, Walter Köhli, Seeblickstrasse 29, 9037 Speicherschwendi, E-Mail: walterkoehli@ bluewin.ch erkundigen. Spenden: Tres Soles, 1660 Château-d’Oex, Kto.-Nr. 17-16727-4. www.tres-soles.de