Der Schatz von Sacambaya

  02.10.2020 Leserbeitrag

In dieser Bolivienspalte setze ich meine Berichte über unsere Reisen mit den Kindern und Jugendlichen von Tres Soles fort.

Einer unserer Jahresausflüge führte uns über einen hohen Pass in die Täler des Andenostabhangs, genauer gesagt nach Independencia. Dort herrscht ein warmes, feuchtes Klima und in der Trockenzeit regnet es auch oft. Diese Gegend hat wegen der Goldschätze, welche die Inkas dort bei Ankunft der Spanier versteckt hatten und weshalb es immer wieder einmal Funde gibt, einen gewissen Bekanntheitsgrad. Die Reise dorthin ist jedoch, so wie das Reisen allgemein in Bolivien, sehr abenteuerlich. Uns erging es bei diesem Ausflug nicht anders. Den Kleinsten wurde auf den unbefestigten, holprigen Bergstrassen reihenweise übel. Eine der deutschen Freiwilligen befiel bei der Überquerung eines über 4000 Meter hohen Passes die Höhenkrankheit. Auch dass der Bus in einem üblen Schlagloch steckenbleibt, kann passieren und alle müssen anpacken, um ihn wieder flott zu bekommen. Im Nachhinein ist jedoch alles vergessen und man kann darüber schmunzeln. Das Wichtigste ist doch, dass schlussendlich alle gesund und heil wieder nach Hause kommen und unvergessliche Erfahrungen gemacht haben.

Da es in Independencia keine Herberge gab, wurden wir vom örtlichen Pfarrer im Pfarrhaus aufgenommen. Die Kinder von Tres Soles haben in unserem Blog ausführlich über diesen Ausflug berichtet, auch über ganz alltägliche Dinge, die während einer solchen Reise beobachtet werden und zu gewissen Erkenntnissen führen. Ein Mädchen schilderte beispielsweise die Unterkunft folgendermassen: «Wir haben in einem Haus der Kirchengemeinde geschlafen. Die Mädchen zusammen in einem Zimmer und die Jungs in einem anderen Zimmer. Mir hat es nicht so sehr gefallen, weil es ein bisschen schmutzig war. Mein Zimmer in Tres Soles gefällt mir besser, weil es sauberer ist. Jetzt werde ich mein Zimmer mehr schätzen und sauber halten.» Leider weiss ich nicht mehr, wer es war, da wir laut Gesetzesvorschriften auf unserer Internetseite und auf unserem Blog keine Namen und Fotos von den Kindern und Jugendlichen veröffentlichen dürfen.

Am Abend erzählte ich den Mädchen und Jungen die Geschichte der Cholita Bernita, eine uralte Legende*, die sich in diesen Tälern zugetragen haben soll: «Bernita war das schönste Mädchen im ganzen Ort», begann ich, natürlich in einer verkürzten Version. «Ihre Eltern schlossen sie in ihrem Zimmer ein, damit sich ihr kein Mann näherte, denn sie strebten nach einem reichen Mann für ihre Tochter! Eines Nachts kam ein Mann in das Zimmer des Mädchens. Sie erlaubte ihm den Zutritt, da er sehr viele Schmuckstücke trug, goldene Zähne hatte und ihr reich erschien. Am nächsten Morgen erzählte das Mädchen ihrer Mutter, was in der Nacht geschehen war. Die beiden konnten sich nicht erklären, wie der Mann durch die verriegelte Tür gekommen sein sollte.

«Nimm einen Faden und mach ihn an der Kleidung des Mannes fest, damit du sehen kannst, wo der Mann wohnt!», sprach die Mutter zu ihrer Tochter. Nach einer weiteren Nacht folgte das Mädchen dem Faden, um zu sehen, wo sie den Mann finden konnte. Der Faden verschwand unter einem grossen Stein. Sie schob ihn beiseite – und fand eine schlafende Schlange. Die Schlange hatte das Mädchen jedoch geschwängert und als die Zeit der Niederkunft kam, gebar sie nicht nur ein Kind, sondern viele. Sie alle waren halb Mensch, halb Schlange. Im ersten Moment wollte sie ihre Kinder töten, doch sie brachte es nicht fertig, denn es waren trotz allem ihre Kinder. Bernitas Eltern hingegen waren fest entschlossen, die Kinder zu verbrennen, doch da erschienen plötzlich mehr und mehr Kreaturen, allesamt halb Mensch, halb Schlange und siehe da, alles begann sich zu versteinern – bis das gesamte Dorf zu Stein geworden war. Das Mädchen und der Schlangenmann aber heirateten. Es heisst, dass sie und ihre Kinder in den Bergen über die versteckten Inkaschätze wachen.

«Warum erzählst du uns diese Geschichte?», fragte jemand, denn die Kinder und Jugendlichen wussten natürlich, dass ich nicht grundlos Geschichten erzählte. «Wir werden einen dieser Schätze suchen gehen», antwortete ich geheimnisvoll. «Wie, wann, wo?», schrien alle durcheinander. «Morgen fahren wir zum Río Sacambaya. Dort, sagt man, ist ein solcher Inkaschatz verborgen.»

Einer der Jungen schrieb anschliessend in besagtem Blog, wie es dann weiterging: «Mit dem Bus sind wir zum Fluss Sacambaya gefahren. Zuerst haben wir drei Gruppen mit den Leuten aus Tres Soles und Luis Espinal gebildet: Gruppe Rot, Gruppe Blau und Gruppe Gelb. Danach haben wir Schatzkarten bekommen und uns wurde gesagt, dass irgendwo Umschläge versteckt sind.»

In den Umschlägen, die an verschiedenen Orten und hinter dem Treibgut am Ufer des Flussbettes versteckt worden waren, gab es Hinweise, die zum Schatz führten: ein Pergamentpapier mit einer verschlüsselten Nachricht, ein anderes mit einer Frage nach dem geschichtlichen Hintergrund, ein kleines Puzzle, das zusammengesetzt werden musste. Inzwischen hatten natürlich alle bemerkt, dass es sich hier nicht um einen richtigen Schatz handelte, den wir suchten. Der Junge berichtete weiter: «Der Schatz bestand aus einigen Münzen aus Schokolade. Gruppe Rot hat gewonnen. Die Schatzsuche hat mir sehr gut gefallen.»

Was er nicht schrieb, war, dass in der kleinen Truhe neben den Goldmünzen aus Schokolade auch kleine Karten zu finden waren, auf denen menschliche Werte geschrieben standen: der wahre Schatz des Menschen, wie am Schluss alle zugaben. Während wir durch die Zickzackkurven nach Independencia zurückfuhren, sahen wir unter uns den schlammigen, gelben Rio Sacambaya und sein gewaltiges, tief in die steilen, grün bewachsenen Berge eingeschnittenes Flussbett verschwinden. Nebel hatte sich gesenkt und es begann zu regnen. Einige der Kinder und Jugendlichen schauderten leicht und hatten sogar eine Gänsehaut an den Armen. Wohl waren sie froh, keine mit Goldstücken und Edelsteinen gefüllte Truhen gefunden zu haben, denn nach einer alten Schrift ist der, der ihn findet, zu einem grausamen Tod verdammt – es sei denn, er wäre vorherbestimmt gewesen und würde das Gold zum Wohle des Volkes ausgeben – wenn er nicht schon vorher von Bernitas Schlangenkindern gefressen wurde. Die Schlange ist, wie schon erwähnt, das Schutztotem der Inkas und viele deren Könige und Würdenträger trugen den Zusatznamen «Schlange», Amaru.

STEFAN GURTNER

* Die ausführliche Version der Legende der Bernita ist nachzulesen in «Doña Isidora und ihre unglaublichen Geschichten» – eine Familiensaga von Stefan Gurtner

Stefan Gurtner ist im Saanenland aufgewachsen und lebt seit 1987 in Bolivien in Südamerika, wo er mit Strassenkindern arbeitet. In loser Folge schreibt er im «Anzeiger von Saanen» über das Leben mit den Jugendlichen. Wer mehr über seine Arbeit erfahren oder diese finanziell unterstützen möchte, kann sich beim Verein Tres Soles, Walter Köhli, Seeblickstrasse 29, 9037 Speicherschwendi, E-Mail: walterkoehli@ bluewin.ch erkundigen. Spenden: Tres Soles, 1660 Château-d’Oex, Kto.-Nr. 17-16727-4. www.tres-soles.de


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