Lesen und Spielen in der Lesewerkstatt
10.05.2018 BildungSTEFAN GURTNER
Im letzten Beitrag (siehe AvS vom 1. Mai) war die Rede vom Spiel in der Praxis. Heute möchte ich gerne einem weiteren «Spielgedanken» anderer Art nachgehen. Wir haben im Verlauf der Jahre festgestellt, dass zwar viele Kinder – und auch Jugendliche – dem Buchstaben nach korrekt lesen können, aber bedauerlicherweise nicht in der Lage sind, den Inhalt dessen, was sie gerade eben gelesen haben, auch zu verstehen. In der Schule wird vor allem das Gewicht auf wissenschaftliche Fächer wie Mathematik, Physik oder Chemie gelegt. Was aber nützt es dem Schüler, wenn er in den schriftlichen Prüfungen die Fragen nicht beantworten kann, weil er sie schlicht und einfach nicht versteht? Es scheint, dass manche Lehrer immer noch nicht begriffen haben, dass die Sprache – und dazu gehören Lesen und Schreiben - die Mutter aller Wissenschaften ist. Weder die Mathematik noch die Physik, nicht einmal der einfachste Gedankengang, kann ohne Sprache auskommen, wie der russische Anarchist Bakunin treffend feststellte: «Niemand kann ohne Sprache denken … Ihr könnt zwar in eurer Vorstellung Dinge darstellen, aber sobald ihr denkt, müsst ihr Worte gebrauchen, denn Worte allein bestimmen den Gedanken und geben den flüchtigen Vorstellungen, den Instinkten den Charakter des Gedankens …»
In den Fächern Literatur und Sprache werden die älteren Schüler häufig gezwungen, über Bücher, die sie nicht selbst auswählen und nicht verstehen, lange Zusammenfassungen und Abhandlungen zu schreiben. Oder es wird ihnen gar in Gruppenarbeiten aufgetragen, Theaterstücke ohne jegliche Anleitung durch einen Lehrer innerhalb kürzester Zeit einzustudieren, die sie dann vor Schulpublikum aufführen sollen. Oft wird den Schülern durch solche Anforderungen, die jedoch eine Überforderung darstellen, die Freude an Literatur und Theater für immer verdorben.
Da wir in Tres Soles der Meinung sind, dass Bildung Spass machen soll, haben wir uns auf die Suche nach Büchern mit interessanten Inhalten und reich und farbig illustrierten Bildern gemacht. Kinder, gerade in unserer heutigen Zeit, sprechen eher auf Bilder als auf Worte an, und je grösser und je farbiger die Bilder sind, desto besser. In unserer «Lesewerkstatt», wie wir diese Aktivität nennen, liest der Betreuer eine Geschichte laut vor, möglichst lebendig und in verschiedenen Stimmen.
Es ist erstaunlich, wie schnell sich Kinder auch heute noch von solchen Lesungen begeistern lassen. Geschichten «erzählt», vorgelesen zu bekommen, gehört offensichtlich ebenso wie das Spielen zu den natürlichen Grundbedürfnissen der Kinder, die nicht erst geweckt werden müssen.
Nachdem der Betreuer die Geschichte vorgelesen hat, wird sie anhand von Bildern, die gezeigt und anhand von Fragen, die gestellt werden, mündlich zusammengefasst. Am Schluss der Stunde erhält jeder ein von uns selbst hergestelltes Arbeitsblatt, das spielerisch den Inhalt der Lesestunde vertieft, das heißt, es gibt jede Woche zu jeder Lesestunde ein neues, farbig bebildertes Arbeitsblatt. In Bolivien sind keine vorgefertigten Schulmaterialien erhältlich, die wie in der Schweiz oder in Deutschland auf Wunsch des Lehrers angeschafft werden. Das wiederum heisst jedoch auch, dass Unmengen von Farbkopien gemacht und die Geldmittel hierfür aufgebracht werden müssen. Der eine oder andere mag möglicherweise Bedenken dagegen haben, aber das nicht zu tun, wäre kontraproduktiv. Nach meinem Dafürhalten würde das bedeuten, an der falschen Stelle zu sparen, wie das so oft im Bildungswesen geschieht, und den Kindern die Freude am Lernprozess zu nehmen.
Die Arbeitsblätter, die wir für die Lesestunde entwerfen, sind unterschiedlicher Natur. Es kann sich um ein Kreuzworträtsel handeln, das Fragen zu der gelesenen Geschichte stellt, oder um eine Buchstabensuppe, in der Schlüsselwörter erkannt werden müssen; ein anderes Mal müssen Silben zu Wörtern und Sätzen zusammengebaut oder Puzzleteile ausgeschnitten werden, die dann ein Bild mit einer Frage ergeben, die beantwortet werden muss. Ebenfalls sehr beliebt sind Comics, die die vorgelesene Geschichte widerspiegeln, wobei es unterschiedliche Vorgehensweisen gibt: Auf einem Arbeitsblatt sind Personen genannt und auf einem weiteren Arbeitsblatt gibt es Bilder und Sprechblasen mit Text, die ausgeschnitten und den Personen zugeordnet werden müssen. Oder aber Bilder aus der Geschichte sind mit leeren Sprechblasen abgebildet, die mit zum Bild passenden Text auszufüllen sind, oder wiederum umgekehrt die Sprechblasen beinhalten einen Text, zu dem Bilder gemalt werden sollen. Manche Bilder sind mit leeren Textzeilen versehen und das Kind wird aufgefordert, die zu den Bildern passende Geschichte kurz zusammenzufassen, während auf manchen Arbeitsblättern zunächst ein leeres Feld zu sehen ist, unter dem der Text der Geschichte steht. In das leere Feld können die Kinder die Geschichte nach ihrem Verständnis malen. Es gibt noch viele weitere spielerische Übungen wie beispielsweise in einer Zeichnung beschriebene Gegenstände zu entdecken und anzukreuzen, in zwei ähnlichen Zeichnungen eine gewisse Anzahl von Unterschieden festzustellen, in einem Labyrinth den Weg zu finden oder Wörter und Buchstaben in einem bestehenden Text zu ergänzen, wobei diese aus einer Zeitung ausgeschnitten werden müssen. Wir haben sogar daran gedacht, Computerspiele zu entwerfen, um die vorgelesenen Erzählungen und Geschichten zu vertiefen, aber das würde natürlich weit über unsere finanziellen und technischen Möglichkeiten hinausgehen.
Neben dem spielerischen Erarbeiten von Texten ist es gleichfalls wichtig, die Lesestunde zu einem aus Sicht des Pädagogen befriedigenden Abschluss zu bringen, was im Klartext bedeutet, mit jedem einzelnen Kind die Zeichnungen und Texte, die es zu Papier gebracht hat, sorgfältig anzuschauen, durchzulesen und zu kommentieren, ergänzende Fragen zu stellen und Rechtschreibfehler zu korrigieren. Viele Kinder verstehen erst durch die abschliessende Auseinandersetzung im Gespräch den Inhalt der Erzählung in seiner Gesamtheit.
Auf der Suche nach Spielen, Übungen, Rätseln und anderem bedienen wir uns auch der Fachliteratur oder Zeitschriften, in denen Anregungen zu finden sind oder gar Spiele vorgestellt werden; die Herausforderung ist, sie an die Erzählungen anzupassen, die Zeichnungen zu kopieren, zu verkleinern, zu vergrössern und die Fragen und Sätze vorzubereiten, was einen enormen Zeitaufwand bedeutet, auch im Zeitalter des Computers. Aus eigener Erfahrung in fast zwei Jahrzehnten, in denen ich für die Lesestunde zuständig war, weiss ich, dass man für die Vorbereitungszeit mindestens die doppelte, eher die dreifache Zeit aufwenden muss, als für die die Dauer der Aktivität vorgesehene Zeit – und sei sie auch noch so kurz. Um wieder zum Ausgangspunkt meiner Überlegungen, dem Bestreben nach spielerischem Erlernen, zurückzugelangen, muss man beinahe entschuldigend sagen, dass gerade in Bolivien, wo die Lehrer schlecht bezahlt werden und deshalb zwei oder gar drei Arbeitsstellen an verschiedenen Schulen haben, dieser Zeitaufwand leider nicht realistisch ist.
Wie es schon zwischendurch angeklungen ist, finden aus Zeitgründen die Aktivitäten unserer Lese- und Spielewerkstatt einmal beziehungsweise zweimal pro Woche statt und dauern jeweils höchstens eine Stunde, da die Kinder natürlich auch ihren Aufgaben, ob in der Schule oder in der Wohngemeinschaft, nachgehen sollen, ebenso wie ihren anderen Beschäftigungen.
Wir müssen uns auch bewusst sein, dass wir von sehr langsamen Bildungsprozessen sprechen, umso mehr die Aufnahmefähigkeit und das Konzentrationsvermögen dieser Jungen und Mädchen, wie bereits erwähnt, seit frühester Kindheit durch Gewalt, mangelnde Anreize und schlechte Ernährung bereits schwer geschädigt sind. Oft ist es nicht mehr möglich, diese Schäden vollständig zu beheben und wir müssen uns damit abfinden, dass sie ohne Schulabschluss oder eine Berufslehre von «Tres Soles» weggehen – aber wenigstens haben sie noch ein paar unbeschwerte Kinderjahre erleben dürfen und etwas kritisches Denkvermögen mit auf den Weg bekommen.
Wer mehr über die Arbeit von Stefan Gurtner erfahren oder diese finanziell unterstützen möchte, der kann sich beim Verein «Tres Soles», Walter Köhli, Seeblickstrasse 29, 9037 Speicherschwendi, E-Mail: [email protected] erkundigen. Spenden: Tres Soles, 1660 Châteaud’Oex, Kto.-Nr. 17-16727-4.