Wie Gstaad sein Verkehrsproblem gelöst hat – seit 20 Jahren autofrei
17.10.2017 GstaadAm 27. Oktober 1997 wurde die Umfahrungsstrasse mit einem grossen Volksfest eröffnet. Dem vorausgegangen war ein jahrzehntelanges Ringen zwischen Befürworten und Gegnern. Wohl niemand wünscht sich die damalige Zeit zurück, als Autos und Lastwagen das enge Dorf verstopften. Gottfried von Siebenthal-Imhof (Gstaad) besitzt Filmaufnahmen von damals, diese werden am 6. und 8. November im Kino Gstaad gezeigt.
Als am 8. Juni 1898 das erste Auto durch Gstaad fuhr, war das eine grosse Sensation und wurde sogar im «Anzeiger von Saanen» erwähnt. Doch schon bald wurde aus der Begeisterung für die «fahrenden Kutschen», wie sie anfänglich genannt wurden, Kritik und sogar Ablehnung. Im Jahre 1906 stellte der Verkehrsverein Gstaad einen Antrag an den Regierungsrat, um den Automobilverkehr nach Lauenen und über den Col du Pillon zu verbieten. Der Grund hierfür war die starke Staubentwicklung auf den damals noch nicht geteerten Strassen. Im Dorf wurden sogar Verbotsschilder aufgestellt mit der Aufschrift: «Im Schritt – ansonsten Busse Fr. –.75».
Bis in die 1950er-Jahre nahm der Verkehr dermassen zu, dass es bereits damals zu Verkehrszusammenbrüchen kam. Der Ruf nach einer Entlastungsstrasse wurde immer lauter. Bereits 1962 wurden erste Pläne für eine Ringstrasse ausgearbeitet. Über zwanzig Mal mussten die Stimmbürgerinnen und Stimmbürger an Gemeindeversammlungen über Geschäfte abstimmen, welche in Zusammenhang mit der Umfahrungsstrasse standen. Es ging um die Linienführung, diverse Landabtausche, den Kauf von zwei Häusern, welche abgerissen werden sollten, dann erneut über neue Alignemente und das Versetzen eines Hauses.
Im Jahre 1980 kam die Vorlage für eine Umfahrungsstrasse, welche das Dorf vom Durchfahrtsverkehr hätte entlasten sollen (noch ging es nicht um ein autofreies Dorfzentrum), an einer Gemeindeversammlung zur Abstimmung. Sie wurde jedoch mit einer Zweidrittelsmehrheit verworfen. Politisch war somit das Thema Umfahrungsstrasse vom Tisch. Aber die Befürworter gaben sich damit nicht zufrieden.
11 000 Fahrzeuge an einem Tag
Nach der Gründung des Aktionskomitees «Pro Gstaad», welches eine Unterschriftensammlung von 1001 Namen bei der Gemeindeverwaltung deponierte und somit den Gemeinderat zwang zu handeln, kam neues Leben ins tot geglaubte Projekt. Nach einer Verkehrszählung im Jahre 1985, an welcher an einem einzigen Saisontag 11 000 (!) Autos im Dorf gezählt worden waren, wurde durch das Aktionskomitee ein Neuanfang der Planung eingeleitet.
Auf der Grundlage einer neuen Überbauungsordnung wurden Projekte für eine Umfahrung neu mit einer Tunnelvariante ausgearbeitet. Ein namhaftes Planungsbüro unter Mithilfe der Kantonsplaner überarbeitete das seinerzeit abgelehnte Projekt. Auch die Möglichkeit eines Autoverbotes im Dorf wurde um 1990 erstmals diskutiert. Ziel sollte ein autofreies Dorf mit einer Fussgängerzone sein. 1994 schliesslich wurde das Bauprojekt von der Gemeindeversammlung bewilligt. Die teuerste Variante mit einer teilweisen Untertunnelung wurde mit einer Mehrheit von 514 Ja- gegen 14 Nein-Stimmen angenommen, ebenso der entsprechende Baukredit.
Befürworter und Gegner
Der Kampf zwischen Befürwortern und Gegnern war in all diesen Jahren intensiv geführt worden – und das nicht immer auf faire Weise. Der stärkste Widerstand ging dabei von einer Gruppe Gewerbetreibender, Hotel- und Restaurantbesitzer sowie von Geschäftsinhabern aus. Diese befürchteten massive Umsatzeinbussen, da ihre Kunden nicht mehr mit dem Auto direkt hätten vorfahren können. Der Kommentar eines Gstaader Geschäftsmannes, publiziert noch kurz vor Baubeginn im «Anzeiger von Saanen», gibt die allgemein vorherrschende Stimmung im Dorf wieder (Zitat): «Die Gewerbetreibenden in Gstaad befürchten durch das Umfahrungsprojekt Gstaad Geschäftseinbussen in Millionenhöhe(!). Sollte Gstaad autofrei werden, haben wir bald keine Touristen mehr. Wenn ein Tunnel neben Gstaad gebaut wird, werden wir zur Durchgangsstrasse ins Welschland. Und dies könnte unseren wirtschaftlichen Ruin bedeuten.»
Volksfest am 27. Oktober 1997
Die Befürworter jedoch konnten sich durchsetzen und so erfolgte im Juni 1995 der «Spatenstich». Nach zweieinhalb Jahren Bauzeit wurde die Umfahrungsstrasse am 27. Oktober 1997 mit einem grossen Volksfest in Anwesenheit von Begierungsrätin und Baudirektorin Frau Dori Schär eingeweiht.
Im Dezember desselben Jahres wurden auch das Parkhaus Untergstaad sowie die in der Überdachung integrierte Kunsteisbahn nach nur viereinhalb Monaten Bauzeit eröffnet. Somit war auch das 35-jährige Tauziehen um die Kunsteisbahn beendet. In den Frühlingsmonaten 1998 und 1999 wurde anschliessend die ehemalige Dorfstrasse etappenweise zu einer Fussgänger-Flanierzone umgebaut. Vier einheimische Bauunternehmen bauten in jeweils drei Monaten neue Werksleitungen. Die ehemalige Strasse wurde mit Naturstein-Pflästerung versehen und rund 50 Bäume wurden gepflanzt sowie drei Brunnen aufgestellt und über fünfzig Sitzbänke platziert.
Die Brunnen sowie sämtliche Schmiedeisen-Laternen, Bänke und Blumenkübel wurden mit einem gross aufgezogenen Sponsoring von Einheimischen, aber vor allem von Stammgästen gesponsert.
Erster wirklich autofreier Kurort der Schweiz
Weil in Gstaad auch keine Elektromobile erlaubt sind, ist es der erste wirklich autofreie Kurort der Schweiz geworden. Ausserdem hat dadurch die Kurorts- und Lebensqualität enorm zugenommen. Die Luftschadstoffe sind seither um über die Hälfte reduziert worden.
Aus Kritik wurde Begeisterung
Aus anfänglicher Kritik wurde allmählich Begeisterung. So ist Gstaad im Jahre 2000 mit dem Tourismuspreis «Milestone» ausgezeichnet worden. Dieser Preis wird vom Staatssekretariat für Wirtschaft SECO und dem Schweizerischen Tourismusverband für wegweisende touristische Projekte vergeben. In seiner Laudatio war Bundesrat Pascal Couchepin voller Lob für die mutige Entscheidung (Zitat): «Der Ferienort Gstaad hat seine Verkehrsprobleme beispielhaft gelöst. Die Gstaader Promenade ist ein leuchtendes Beispiel für weitsichtiges und innovatives Denken, Handeln und Gestalten.»
Gstaad hat mit seiner Umfahrung und der Promenade einen gewaltigen Schritt in die Zukunft gemacht und gleichzeitig eine grosse Qualitätssteigerung erfahren. Die Umsätze in den Geschäften und vor allem in den Restaurants sind nicht, wie von vielen befürchtet, zurückgegangen. Nein, ganz im Gegenteil: Die Gäste verweilen nun länger und gerne in der freundlichen, ruhigen Fussgängerzone.
(Aus dem Buch «Gstaad – die Geschichte eines Weltkurortes», das im nächsten Jahr erscheint)
DATEN ZUM VERKEHRSKONZEPT
Strassenlänge 1 km Tunnel 432 m Kreisel 4 Brücken 5 Parkhaus Litzi Obergstaad (1991)
Parkhaus Untergstaad (1997)
Bahnhofplatz Kauf und Umbau
Promenade Umbau 1998/99
Gesamtkosten ca. Fr. 52 Mio.
FILMVORÜHRUNG IM KINO GSTAAD
Aus dem Videomaterial sind zwei Filme entstanden: «Gstaad mit Autos» und «Eröffnung der Umfahrungsstrasse». Die beiden Filme werden im Kino Gstaad am Montag, 6. November und Mittwoch, 8. November jeweils um 20.00 Uhr gezeigt.